Eine Therapeutin im Maßregelvollzug: „Totmannalarm“ von Karoline Klemke
Eine Therapeutin behandelt Schwerverbrecher und riskiert Blicke in die menschliche Seele. Die Autorin Karoline Klemke hat selbst im Maßregelvollzug gearbeitet.

Karoline Klemke wurde 1973 in Berlin in eine Künstlerfamilie geboren. Sie studierte Psychologie und arbeitet seit 2002 in der forensischen Psychiatrie. Als Psychologin und approbierte Psychotherapeutin betreute sie obdachlose Jugendliche und behandelte viele Jahre Schwerkriminelle im Maßregelvollzug, im Gefängnis und in einer Straftäterambulanz. Seit 2016 ist sie als kriminalprognostische Gutachterin tätig und führt eine eigene psychotherapeutische Praxis in Berlin. Sie ist Autorin der Berliner Zeitung, schrieb etwa mehrere Kolumnen über „Verbrechen“ und im Wechsel mit Ulrich Seidler eine Serie über Erinnerungen an die DDR-Schulzeit („Unsere Lehrer“). „Totmannalarm“ ist ihr erstes Buch. Darin erzählt Klemke von Therapiesitzungen mit Straftätern im Maßregelvollzug. Die Fälle sind fiktionalisiert, aber aus authentischem Erleben heraus erzählt. Die Protagonistin ist Psychotherapeutin wie Karoline Klemke, heißt Christiane Richter und ist am Beginn des Buches noch eine blutige Anfängerin im Maßregelvollzug ...
Meine Woche begann nun immer mit Herrn Matzke. Mein Montag-neun-Uhr-Termin.
„Wir schließen ihn durch, direkt nach der Lebendzählung“, hatte der Oberpfleger gesagt und mich bedeutungsvoll angesehen.
Ich verstand hier oft nur die Hälfte. Was bloß sollen einem diese martialischen Substantive auch sagen? Aber ich lernte dazu. Von „Durchschluss“ spricht man in dem Metier, wenn man einen Gefangenen durch die Türen begleitet und dabei vor ihm auf- und hinter ihm wieder zuschließt, „Lebendzählung“ meint die morgendliche Zählung nach dem nächtlichen Einschluss. Könnte ja jemand gestorben sein. Maßregelvollzug, Vollstreckungsreihenfolge, Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht. Worte wie Maschinen. Und Juristensprache kommt anscheinend ohne Adjektive aus und fast ohne Verben.
Es klopfte. Ein Pfleger trat ein und brachte Herrn Matzke. Der dicke Alte, der mir in der Morgenrunde den Schlüssel gereicht hatte. Ich stand auf und lief ihm zwei Schritte entgegen. Er hatte wache braune Augen, trat dicht an mich heran und streckte seine Hand aus. Einen Kopf größer war er, und ich sah genau auf sein Doppelkinn: „Guten Morgen, Frau Richter. Wir haben doch jetzt einen Termin.“
Er wartete nicht ab, sondern nahm Platz, als wäre das selbstverständlich. Ich setzte mich ihm gegenüber. Der Pfleger schloss die Tür hinter meinem Rücken. Sitz niemals so, dass der Patient den Weg zur Tür und zum Alarmknopf versperrt!, fiel mir ein. Die Einweisung durch den Sicherheitsbeauftragten am Ende meiner ersten Arbeitswoche hatte eine ganze Stunde gedauert, unmöglich konnte ich mir das alles merken.

Erscheinungstermin: 16.3.2023
Berliner Buchpremiere: 23. April, 16 Uhr im Theater im Palais, mit der Autorin, Moderation: Ulrich Seidler. Karten unter www.theater-im-palais.de
Herr Matzke hatte, wie ich der Akte entnommen hatte, sein Leben lang Frauen vergewaltigt und dafür über dreißig Jahre in Haft gesessen, fast die Hälfte seines Lebens. Nichts hatte ihn abgehalten. Immer wieder wurde er rückfällig. Mal nach drei Monaten in Freiheit, mal nach zwei Monaten. Nach seinem letzten Delikt hatte es dem Strafrichter gereicht und er wies ihn zu uns in den Maßregelvollzug ein. Der psychiatrische Gutachter hatte eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, nicht auszuschließen, dass sich Herr Matzke deshalb bei der Tat nicht hat steuern können.
Ziel der Behandlung in der Klinik ist die „Besserung und Sicherung“. Man bessert und sichert seit 1933, in jenem Jahr haben die Nazis das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher eingeführt. Der Weg in diese Art des Maßregelvollzugs ist steinig. Voraussetzung ist eine schwere Straftat. Dann muss das Gericht feststellen, dass erstens diese Tat aufgrund einer psychischen Erkrankung begangen wurde und dass zweitens eine Wiederholungsgefahr besteht. Die Gefährlichkeit ist also die Eintrittskarte.
Herr Matzke hatte sie gelöst.
Und da saßen wir beide nun. Aber während ich jeden Abend nach Hause fuhr, würde er erst wieder in die Freiheit entlassen werden, wenn das Gericht ihn für nicht mehr gefährlich befand. Und dafür zu sorgen, war meine Aufgabe.
Über den Gesprächsbeginn hatte ich eine Weile nachgedacht. Eindeutig wollte ich sein und nicht unsicher wirken. Irgendwer hatte mir gesagt, dass es drei Regeln in der Straftäterbehandlung gibt:
1. Der Therapeut hat die Kontrolle.
2. Der Therapeut hat die Kontrolle.
3. Der Therapeut hat die Kontrolle.
Ich wusste noch nicht, was für ein Blödsinn das war, und sagte deshalb nachdrücklich: „Mein Name ist Richter, ich bin Ihre Psychotherapeutin, wir werden über Ihre Gefährl…“
„Frau Richter, wie schön“, unterbrach er mich, und sein Ton hatte etwas Komplizenhaftes. „Ich bin ja jetzt seit zehn Jahren hier, und Sie sind meine achte Therapeutin. Die Straftataufarbeitung ist wirklich wichtig, und Empathie, die hatte ich ja damals nicht. Dabei sind Frauen doch auch Menschen. Und bald werde ich hoffentlich Ausgang haben, aber erst mal müssen wir ja miteinander …“, er lächelte und senkte seine Stimme verschwörerisch, „… warm werden.“ Sein Blick traf mich geradeheraus.
Er hatte mich einfach überrannt. Mit einem therapeutischen „Hmhm“ verschaffte ich mir eine Atempause und rettete mich in ein paar Floskeln. „Bitte erzählen Sie mir etwas über Ihre aktuelle Lebenssituation.“ Und: „Wie ist Ihr Tagesablauf im Moment?“
Freundlich und ausführlich antwortete er mir. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, er arbeite in der Tischlerei, Kontakte nach draußen habe er keine mehr, aber seit zwei Jahren eine Brieffreundin, die gerade in der Psychiatrie sei. Mit den anderen Patienten und den Pflegern verstehe er sich gut. So weit, so unkompliziert. Aber eigentlich sollte ich ihn zu den Straftaten befragen, und an dem Punkt wurde es heikel. Das stand schon in seiner Akte.
Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder gefangen und setzte neu an: „Nun, Sie sind ja recht lange in Haft gewesen. Wie kam es denn dazu, dass Sie die Vergewaltigungen begangen haben?“
Ein empörter Blick traf mich. Wütendes Schweigen folgte. Er presste die Lippen aufeinander, alle Freundlichkeit war dahin. Dann: „Sie glauben doch nicht etwa, dass ich jemals einer Frau etwas zuleide getan habe?“ Es war keine Frage, sondern eine eindringliche Aussage.
Ich schwieg. Einen Moment glaubte ich, mich verhört zu haben. Hat der Mann nicht eben von Straftataufarbeitung gesprochen?, dachte ich. Der spinnt wohl. Will der mir erzählen, dass er dreißig Jahre für nichts gesessen hat?
Als Psychotherapeutin war ich jetzt in einer unangenehmen Lage. Ich musste etwas Sinnvolles sagen. Schlagfertig war ich in meiner wortlosen Familie nicht gerade geworden. Und in sechs Jahren psychologischer Ausbildung bereitet einen niemand auf so etwas vor. „So, liebe Studenten, eines Tages werden Sie vor Menschen sitzen, die ihre gesamte Lebenswirklichkeit verleugnen. Was sagen wir denn in so einem Fall?“
Ein charismatischer holländischer Straftätertherapeut, den ich auf einer Tagung gesehen hatte, empfahl in einer solchen Situation, laut und ausgiebig zu lachen. Ich wollte unbedingt charismatisch sein, aber nach Lachen war mir gar nicht zumute. Und die dramatische Psychotante wollte ich nicht geben. Also dachte ich einen weiteren Moment nach.
Die Grundlage jeder Straftäterbehandlung ist die Bearbeitung der Straftat. Es ist der Kern jeder Behandlung. Dafür muss der Täter die Tat aber erst einmal zugeben. Leugnen ist auf keinen Fall erlaubt.
Ich stand auf, lief die drei Schritte zum Aktenschrank hinter meinem Schreibtisch und zog den Aktenband mit dem Urteil heraus. Ich blätterte auf, sprach die klugen Worte: „Wissen Sie, hier in Ihrem Urteil steht Folgendes“ und begann vorzulesen: „Am 23. Juni 1986 nach einer durchzechten Nacht …“
Klug, aber eindeutig nicht klug genug.
Herr Matzke wurde rot. „Unglaublich ist das! Das habe ich nicht. Ich habe noch nie zu viel Alkohol getrunken …“, unterbrach er mich, musterte die Tischplatte und strich mit beiden Händen die nicht vorhandene Tischdecke glatt.
Ich las weiter: „… hat der Frank Matzke die Frau Protz gegen ihren Willen …“
„Was soll das denn heißen, die wollte das auch. Was die da nachher erzählt hat …“ Er wurde laut, und ich sah mich kurz nach dem Alarmknopf neben der Tür um. Aber eigentlich fühlte ich mich nicht bedroht. Er brüllte, als würde er mit einer Schwerhörigen sprechen.
So schnell konnte man mich nun nicht beeindrucken. Überzeugt von meiner Strategie, fuhr ich fort: „… auf dem Rücken liegend festgehalten und an ihrem unbedeckten Geschlechtst…“
Er sprang in einer Geschwindigkeit auf, die ich ihm mit seinem Gewicht nicht zugetraut hätte.
„Das ist nicht wahr!“, rief er. „Mit Ihnen kann man ja nicht reden, Sie sind ja verrückt! Was wollen Sie eigentlich von mir?“ Bevor ich das erklären konnte, drehte er sich um und rannte türknallend aus dem Büro. Er kam nicht weit. Nur bis zum nächsten Gitter.
Ein paar Minuten saß ich unschlüssig auf meinem Platz und wartete, dann rief ich auf der Station an. „Herr Matzke möchte nicht mehr mit mir sprechen. Könnten Sie ihn bitte … durchschließen.“
Dieses Therapiegespräch hatte genau fünfzehn Minuten gedauert. Ich legte den Hörer auf. Das war wohl keine so gute Idee, die Sache mit der Akte. Ich sah einen Moment aus dem Fenster und dann auf den digitalen Wecker, der auf dem Schreibtisch 9.23 Uhr anzeigte.
Bei meinem letzten Zusammentreffen mit einem Vergewaltiger, ein Jahr vor der Geburt von Max, hatte die rot beleuchtete Uhr an der Konsole meines Seat 0.32 Uhr angezeigt. Ich parkte ein, im Radio lief Green Day, ich wartete einen Moment, um „When I Come Around“ zu Ende zu hören, dann stieg ich aus. Da kam direkt aus einem Busch neben dem Fußgängerweg eine gebückte, dunkle Gestalt mit Kapuze schnellen Schrittes auf mich zu. Gerade noch eine halbe Sekunde hatte ich Zeit, die hintere Autotür zu öffnen, und Katinka sprang heraus. Meine schwarze Mischlingshündin, die es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatte, mich zu beschützen. Sie stürzte sich wütend bellend auf den Mann. Das war der Teil Schäferhund in ihr. Ich taumelte drei Schritte rückwärts, die Gestalt erstarrte und stand einen Moment wie eingefroren. Dann drehte sich der Mann um und rannte panisch davon. Im Dunkeln sah ich, wie er sich auf die hell erleuchtete Hauptstraße zubewegte. Mein Herz raste, aber ich wunderte mich auch. Seine Beine bildeten eine rotierende Scheibe, wie man so sagt. Er flüchtete, als würde die Gefahr nicht von ihm ausgehen, sondern von mir. Sein Gesicht hatte ich nicht gesehen. Katinka hatte ihn ein paar Schritte verfolgt, dann war sie schwanzwedelnd umgekehrt und hatte mir die Hände geleckt.
Mir fiel auf, dass ich erstmals in meinem Leben mit einem verurteilten Vergewaltiger an einem Tisch gesessen hatte. Ich sah mich in meinem Büro um. Angst fühlte ich nicht, ich war höchstens ärgerlich. Dieser Typ, Frank Matzke, war einmal so ein Schattenmann gewesen, mit Opfern, die keinen schwarzen Hund hatten. Und der setzt sich ernsthaft hier hin, blickt mir ins Gesicht und streitet alles ab? So billig will der davonkommen? Das könnte dem so passen, dachte ich.
Reue war ja wohl das Mindeste, was man erwarten konnte.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, öffnete die Patientenakte und schrieb wütend: „Pat. verweigert weiter das Gespräch über seine Straftaten.“