Live dabei: Eine Adlerfamilie durchlebt die Dramen von Brut und Tod

Per Live-Cam kann man ein Weißkopfseeadlernest beobachten. Kurz vor dem Schlüpfen fiel die Kamera aus. Jetzt geht sie wieder, und wir müssen tapfer sein.

Ein Weißkopfseeadler.
Ein Weißkopfseeadler.Wolf Feix/imago

Nach über zwei nervenzerfetzenden Tagen, an denen die Kamera ausgefallen war, kann man nun wieder in das Nest blicken. Ein später Wintersturm in einer Höhe von über zweitausend Metern über dem Meeresspiegel hatte drei Meter Neuschnee gebracht. Davon war auch zu viel auf den Solarpaneelen der Kamera gelandet, sodass dieser der Saft ausging. Nun scheint wieder die Sonne. Zu sehen sind in einem Kranz aus schmelzendem Schnee zwei Eier. Sie liegen in der Mitte wie von einem Hasen mit Sinn für Ästhetik in einem Osternest arrangiert. Ein wunderschönes Bild, aber eines, das mir das Herz zerbricht. Die Eier gehören einem Weißkopfseeadlerpaar, das in einem Nest in einer Jeffrey-Kiefer im San-Bernardino-Nationalpark, Kalifornien, nicht weit vom Ufer des Big-Bear-Sees, lebt. Von ihrem Nest in 45 Metern Höhe haben die beiden eine traumhafte Aussicht. Die Eltern heißen Jackie und Shadow und sind elf und neun Jahre alt.

Noch vor ein paar Tagen bot sich ein ähnliches Bild, nur dass die Eier von einem der beiden verdeckt waren. Seit Shadow im Sommer 2018 seinen Vorgänger Mister B. verjagt hat, sind sie ein Paar. Wenn die Sonne scheint und ein leichter Wind weht, der die Kiefer wiegt und den Vögeln sanft ins Gefieder greift, kommt das harmonische und ruhige Bild einem Paradies auf Erden nah.  

Man mochte sich dazusetzen. Man hätte nur den angefressenen Catfish zur Seite schieben müssen, den Shadow für Jackie aus dem unten schimmernden See mitgebracht hatte und den diese aufgebrochen und nur halb verzehrte, um für später noch etwas zum Snacken zu haben. Durch Zufall bin ich auf die Live-Cam gestoßen, die eine Umweltorganisation angebracht hat und die rund um die Uhr das Leben der Vogelfamilie überwacht. Cam 1 wackelt leider noch immer, aber es gibt noch Cam 2, die von fern auf das Nest blickt und besser funktioniert.

Die Eier wurden den Angaben nach am 11. und 14. Januar gelegt. Die Brutzeit beträgt eigentlich 38 Tage, es hätte also am 18. Februar und am 21. Februar so weit sein sollen. Aber, wie ich inzwischen erfahren habe, dauert es manchmal sogar 50 Tage. Ich war noch voller Hoffnung, als an Tag 48 die Kamera ausfiel.

Ich guckte die vorsichtig auf ihren Eiern hockenden, oft schläfrigen, Wärme produzierenden Vögel an und bekam eine Ahnung davon, was für eine kräfte- und vor allem nervenzehrende Geduldsprobe das Brüten ist. So berauschend das Zugucken für Momente kurz nach dem Einschalten ist und so tief einem das Erlebnis der Verbundenheit mit den fernen Wesen ins Herz fährt, es wird doch ziemlich schnell langweilig.

Was denken die beiden? Was erzählen sie einander bei den seltenen Begegnungen? Machen sie sich Sorgen? Denken sie an die Zukunft? Und an die Eier, die sie in den letzten Jahren auf die Welt gebracht haben? Manche sind schon beim Legen zerbrochen, viele haben sich nicht entwickelt oder wurden von Raben geknackt, wenn die Eltern sie kurz unbeaufsichtigt gelassen haben. Einige Küken sind geschlüpft, aber dann doch erfroren – die Gefahr steigt, wenn sie zu groß sind und nicht mehr unter die Körper ihrer Eltern passen, es kann bis in den späten Frühling hinein sehr kalt werden.

Schwere Nester, die von den Bäumen brechen

Nur zwei Küken von Jackie und Shadow sind erfolgreich flügge geworden, eines habe den Annalen zufolge bei seinen Flugübungen bei stürmischem Wetter das Nest zum Absturz gebracht. Die Spannweite eines erwachsenen Vogels kann bis zu einem Meter achtzig betragen. Und die Nester, die über Jahre genutzt und ausgebaut werden, wiegen am Ende manchmal bis zu einer halben Tonne. Die brechen öfter als man denken würde von den Bäumen und stürzen in die Tiefe – dann fangen die Vögel meist gleich in der Nähe mit einem Neubau an. Wenn das Gelege früh genug im Jahr mit abgestürzt ist, machen sie vielleicht noch einen zweiten Versuch, bevor die fruchtbare Phase des weiblichen Vogels für diese Saison vorbei ist.

Solche Angaben, die aus den Informationen der dazugehörigen Website und der Facebookgruppe zu entnehmen sind, individualisieren die beiden Vögel, ich glaube, ich kann sie inzwischen unterscheiden. Jackie ist kleiner, hat aber einen dickeren Schnabel. Aber das alles sind Geschichten aus der Vergangenheit. Was mich die Kamera immer wieder ansteuern lässt, ist die unmittelbare, mit den Vögeln geteilte Gegenwart, die über eine räumliche Trennung von vielen tausend Kilometern und sieben Zeitzonen hinweg zu spüren ist. Ja, ich weiß, Projektion. Aber ich erschrecke immer wieder, wenn mich einer der Vögel nach einer seiner ruckartigen Kopfbewegungen mit seinem strengen Blick anzusehen scheint und dann noch sein Kreischen vernehmen lässt. Meistens, wie angedeutet, passiert nichts und gerade dann pumpt der Strom der Empathie, lebt das Drama.

Angriff der Raben

Ende Januar musste ich zusammen mit Jackie den Angriff eines Rabenpaares miterleben, das sich für die Eier interessierte und ihnen minutenlang von zwei Seiten auf die Pelle rückte. Wir kennen die Sprache der Weißkopfseeadler nicht, wissen also nicht, ob es reflektierte Warn- oder doch affektive Angstschreie waren, die Jackie ausstieß.

Mit kräftigen Flügelschlägen versuchte sie die wesentlich kleineren schwarzen Raben zu verscheuchen, wobei sie mit jeder Verteidigungsattacke in die eine Richtung, die Eier aus der anderen Richtung angreifbar machte. Die Raben hatten ihre Strategie danach ausgerichtet und gingen mit Erbarmungslosigkeit an ihr Werk, es war eine Frage der Zeit, bis sie erfolgreich sein würden.

Die Eier liegen nach 50 Bruttagen verlassen im Nest.
Die Eier liegen nach 50 Bruttagen verlassen im Nest.Screenshot/FOOBV

Irgendwann aber kam – auf das Rufen von Jackie? – Shadow dazu, stieß seinerseits Hassschreie aus – Hassen ist ein ornithologischer Begriff, das sind Verhaltensweisen von Vögeln, um Feinde zu vergrämen –, jagte den beiden Raben hinterher, die keine Probleme hatten, seinen zwar eleganten, aber weniger wendigen Flugbewegungen zu entkommen. Als sie in die Flucht geschlagen waren, begrüßten sich Jackie und Shadow mit wenigen, aber vielsagenden Lauten und Blicken. Dann stand Jackie nach Stunden des Brütens auf, und ließ sich locker aus dem Nest in die Arme der Aufwinde fallen und davontragen. Kinderfrei! Shadow nahm ihre Stellung ein, senkte seinen Bauch auf die Eier, ruckte lange hin und her, korrigierte seine Haltung, bis alles stimmte. Seine Schicht begann. Und ich konnte ausschalten.

Mit dem Einzug des März wurde es wieder kälter, das Nest wurde weiß und sah mit dem Schnee fast noch gemütlicher aus als sonst. Manchmal war nur der weiße Kopf des brütenden Vogels zu sehen. Das soll denen nichts ausmachen, der Schnee hat isolierende Eigenschaften. Außerdem verfügen die Vögel über wärmespeichernde Daunen und über 7000 wasserabweisende Deckfedern. Aber wer will, nur leicht beflaumt, bei einem solchen Wetter schon sein Ei verlassen? 

Nachdem die Kamera wieder funktioniert, ist auch die Hoffnung gestorben. Die Vögel überlassen die Eier immer länger sich selbst. Nach fast zwei Monaten aufopfernder Brut wäre es nun das beste, die beiden Raben kehrten zurück, knackten die Eier und fräßen den Inhalt, auf dass die Überreste, wie es Vogelbeobachter in ihrer Einsicht formulieren, Teil des Nestes würden. Erst dann würde Jackie begreifen, was wir schon wissen, und sich auf eine neuerliche Befruchtung einlassen. Zu lange sollte das nicht dauern, sonst ist es für dieses Jahr zu spät.