Berlin-Am 22. März 1895 lud die in Paris ansässige „Gesellschaft zur Förderung der nationalen Industrie“ zu einer geschlossenen Veranstaltung. Die Brüder Auguste und Louis Lumière stellten den von ihnen entwickelten fotomechanischen Apparat namens „Cinématographe“ sowie einen damit hergestellten Film vor.

„La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon“ (Der Ausgang der Lumière-Fabrik in Lyon) dauert 45 Sekunden und zeigt genau das, was der Titel verspricht. Frauen und Männer passieren ein sich öffnendes Fabriktor und zerstreuen sich nach links und rechts auf den Gehwegen. Mit dieser knappen Minute konservierter und reproduzierbarer menschlicher Bewegung war das Zeitalter des Kinos geboren. Der Zauber der filmischen Illusion war in der Welt. Lumière heißt Licht.
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Kino als Kind des Kapitalismus
Momentan bleiben in fast allen Kinosälen die Leinwände dunkel. Die heutige Krise ist auch eine Krise des Kinos. Als vor 125 Jahren der erste Film entstand, setzte der Kapitalismus gerade zum weltweiten Siegeszug an. Das Kino war Teil dieser technischen und ökonomischen Revolution, genauso wie die Elektrizität, die Automobile, die Massenfertigung. Film war zugleich Ergebnis, Ausdruck und Katalysator der beginnenden Globalisierung. Wenn nun durch die Coronakrise die unbändige Expansion der Warenproduktion gebremst wird, so muss auch das Unterhaltungskino als Teil dieser Entwicklung verstanden werden.
Die Lumière-Brüder selbst hatten ihre Erfindung als „Kunst ohne Zukunft“ beschrieben und sich wenige Jahre nach ihrer Innovation von ihr zurückgezogen. Auguste Lumière soll sogar gesagt haben, dass er das Kino lieber nicht erfunden hätte, wenn er gewusst hätte, was daraus werden würde. Jean-Luc Godard beschreibt in seinem Filmessay „Histoire(s) du Cinèma“ das Kino als eine „Sache des neunzehnten Jahrhunderts, die im zwanzigsten Jahrhundert aufgegangen ist“. Im Ersten Weltkrieg hat der Film durch seine propagandistische Instrumentalisierung dann auch ganz konkret seine Unschuld verloren.
Kurze Zeit der Naivität
Anhand der frühen Arbeiten der Lumière-Brüder können heute die Unbefangenheit und Entdeckungsfreude der ersten kinematografischen Phase nachvollzogen werden. Es macht ungemeinen Spaß, anhand dieser Zeugnisse der „Siebten Kunst“ quasi beim Laufenlernen zuzuschauen. Die schönste Hommage an diese kurze Zeit der Naivität entstand 1995 unter dem Titel „Lumière et Compagnie“. 41 Filmemacher – darunter Peter Greenaway und David Lynch – verbeugten sich mit kurzen filmischen Skizzen vor den Erfindern des Cinématographen, dies ganz im Stil des ausgehenden 19. Jahrhundert, gedreht mit nachgebauten Lumière-Kameras.