Max Frisch: Es ist abgelebt
Er hat nichts dem Zufall überlassen. Zwanzig Jahre lang nach seinem Tod, so die „öffentliche letztwillige Verfügung“ von Max Frisch, lagerten seine Berliner Journale ungelesen in einem Banksafe in Zürich. Weitere 18 Monate dauerte es, bis nun jeder, der möchte, lesen kann, welch heißen Stoff Frisch da im „deep freezer“, wie er es nennt, der Tiefkühltruhe also, deponiert hatte. Zumindest die Hefte 1 und 2, die restlichen drei Konvolute sind laut Nachwort des Herausgebers Thomas Strässle nur wilde Zettelsammlungen in Briefumschlägen – undruckbar. In der Zwischenzeit hatte der Stiftungsrat seine Verantwortung wahrgenommen und aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen einige für zu privat erachtete Passagen über Frischs „Ehe-Ruine“ zensiert. Auch war Frischs damaliger Frau Marianne, die Ehe wurde 1979 geschieden, die Druckfassung vorab zur Einwilligung vorgelegt worden.
Ob diese Säuberung von jenem scheinbar allzu Privaten, das ja doch eigentlich den voyeuristischen Reiz des Tagebuchlesens ausmacht, im Sinn des Erfinders war, bleibt hingegen fraglich. Schon beim Verfassen des Journals hatte Frisch, wie er sich „mit Scham“ eingesteht, den öffentlichen Leser im Blick. Und bei Brechts Arbeitsjournal 1938–1955, das er zur selben Zeit liest, moniert er, dass Brecht darin nichts von seinen Affären und Geliebten meldet, „was er uns schuldig wäre“. Im Gespräch mit Volker Hage 1981 betonte er, dass sein Journal aus einem Guss sei, in dem es viel um die Ehe gehe: „Das Ganze ist eine Einheit, alles geht ineinander über.“
Frisch hat kein Sudelbuch verfasst, alles ist sorgfältig durchkomponiert, ins Reine geschrieben und säuberlich in Ringheften archiviert. „Der Zwang zur Formulierung ist wichtig, sonst wird es das pure Selbstmitleid.“ Eine Fotokopie hatte schon früh Uwe Johnson erhalten, der Freund aus der Friedenauer Nachbarschaft, mit dem sich zeitlebens gesiezt wird. 1980 fragt Johnson, ob er es lesen dürfe und bittet gegebenenfalls um Frischs schriftliche (!) Erlaubnis. Sie wird ihm postwendend gewährt unter der Auflage, mit niemandem darüber zu sprechen. „Es ist abgelebt.“ Er warnt den Freund, es stehe „viel Krudes, viel Selbstgerechtigkeit“ drin. Frisch weiß, wie man Erwartungen schürt.
Nach der Lektüre der 160 oft spärlich bedruckten Seiten (hinzu kommt ein aufgeblähter Anhang mit 17 Seiten Nachwort, Herausgeberbericht und 27 Seiten Anmerkungen) muss man sagen, leider zu wenig, vor allem zu wenig Krudes. Im Gegenteil, das nun veröffentlichte Berliner Journal ist faszinierend banal. Streckenweise fast aseptisch abgeklärt.Man spürt die zähe Langeweile, wenn Frisch stundenlang „ohne Arbeitsplan“ vor der Schreibmaschine sitzt und nichts seinen Ansprüchen Genügendes zustande bringt, wenn der lange Frühling sich endlich zum spießigen Friedenauer Sommer wendet, wo die Aufzeichnungen vorerst enden, weil das Ehepaar Frisch ins Tessiner Domizil zieht.
Das Journal beginnt am 6. Februar 1973 mit „Übernahme der Wohnung (Sarrazinstraße 8) und Abend bei Grass. Nieren.“ Es endet Anfang 1974 mit den Reisevorbereitungen Max Frischs für die USA, wo Frisch im März 1974 mit Alice Locke-Carey alias Lynn ein Wochenende in Montauk verbringen wird. In Frischs Erzählung „Montauk“ werden einige der Textstellen des Journals fast wörtlich wieder auftauchen.
Die Nachbarn Grass aus der Niedstraße leihen Bettzeugs, ein Handwerker schraubt einen Schrank zusammen – immer gehetzt wie Woyzeck –, Arbeitstisch, Fernseher, Küchengeräte werden angeschafft. „Kein Mangel an Geld, im Gegenteil.“ Der Jaguar steht auf der Straße. 1990 wird Frisch ihn Schlöndorff schenken für dessen Verfilmung von „Homo Faber“. Er wird erkannt, im Lampengeschäft, vom Schlosser, vom Bankangestellten. Es freut ihn. „Sonntag Einzug in die Wohnung. Morgen soll es auch warmes Wasser geben.“
In diese lapidaren Notate des Ankommens im Alltag mischen sich Erinnerungen, Traumfragmente, Reflexionen über den Alkoholkonsum („keine Woche ohne Niederlage“), über das Schreiben („Popanz der Öffentlichkeit; als lebe man, um etwas zu sagen. Wem?“), aus denen „akute Verzweiflung“ hervorblitzt. Krise überall. Der fast 62-Jährige hat Angst, vor dem Altern („So spät ist es schon?“), dem Sterben („noch drei, vier brauchbare Jahre“), vor dem Vergessen, alarmiert registriert er die Löcher in seinem Kurzzeitgedächtnis. „Man schweigt aus Unsicherheit und vergisst, was man verschwiegen hat“.
Hormone und Sprache
Er diagnostiziert das Schwinden der Einbildungskraft und den Verlust des Sinnlichen in seiner Sprache, „wie ausgelöscht, dieselben Wörter, aber ohne Hall. Wie im Geschlechtlichen“. Die Magie der Liebe ist verloren. Trefflich knapp konstatiert er den Zusammenhang zwischen Hormonen und Sprache: beide lassen nach. Kompensiert wird das durch sein neues Interesse am Faktischen und am Biografischen, dem eigenen Leben, das er nun wie ein Fremdes aus der Distanz betrachten will und den Leben der anderen. Während er Peter Handkes Radikalität bewundert, mit der dieser das Ich in die Literatur zurückgebracht hat, läuft Frisch zur Bestform auf, indem er sein Ich vergisst. Es ist wieder „Sehenszeit“.
Dazwischen funkeln wie Solitäre immer wieder grandiose Miniaturen. Da ist die keine zehn Zeilen lange Parabel vom Edelmann, der auf dem Weg zum Schafott um ein Blatt Papier bittet, um etwas aufzuschreiben, „pro memoria“, nur für sich selbst. Die Geschichte vom Unschuldigen vor Gericht, der ausrastet, weil er nicht derjenige sein will, den die Zeugenaussagen entlasten. Und die Erinnerung an die Ex-Geliebte Ingeborg Bachmann, die seine Notizen aus dem Kreisspital von 1959 (Hepatitis) verbrannt hat. „Seither haben wir uns nicht mehr gesprochen.“
Was das Berliner Journal zwar nicht zum Futter für Klatschliebhaber, aber zur literaturgeschichtlichen Fundgrube macht, sind die mit der nüchternen Präzision des Architekten gezeichneten Porträts seiner Freunde und Bekannten: Günter Grass wird bald offenherziger, er zeigt sich bedürftiger nach Zuwendung und hört sogar zu beim Gespräch über „die Gefahr der Verbravung durch politischen Pragmatismus“. Bloß sein Verlautbarungszwang nervt. Uwe Johnson ist ein verwundeter Puritaner, der gegen seinen moralischen Rigorismus und den „Überdruck der Gewissenhaftigkeit“ vier Flaschen Wein trinkt, um dann in assoziative „Kreuzworträtselei“ zu verfallen. Hans Magnus Enzensberger dagegen ist cool, völlig krampflos, ein „angenehmer Mensch, der sich selbst nichts nachträgt“, so intelligent, „dass man ihn nicht als Schwätzer bezeichnen kann“.
Aber richtig in Fahrt kommt das Büchlein, wenn Frisch von seinen Besuchen in Ost-Berlin berichtet. Hinter der Mauer mit einem Drainage-Rohr oben drauf findet er es viel aufregender als in der Friedenauer Kleinbürgerlichkeit mit Essengehen beim Italiener und Sonntagsausflügen nach Stein-Stücken. Da findet das Leben statt, da fühlt er sich „in der Fremde“, da hört der Schweizer zu. Frisch stürzt sich mit vollen Emphase-Segeln und großer Neugier in die Ost-Berliner Literatenszene, er geht mit dem Verlagsleiter von Volk und Welt („Gantenbein“ ist da 1966 erschienen, „Homo Faber“ 1973) ins Restaurant im Hotel Stadt Berlin am Alexanderplatz, er amüsiert sich über die Not des Nachwortschreibers, der ihm Streichungen anzutragen hat („wer möchte schon ein (armes) Schwein sein?“), er lässt sich auf der Leipziger Messe hofieren, geht zu Empfängen („Wo bleiben die Autoren?“) und liest beim Schriftstellerkongress vor Verbandsfunktionären (nur Volker Braun stellt eine sinnvolle Frage).
Der erste Kommunist
Noch auf der Messe lernt Frisch Jurek Becker und Wolf Biermann kennen. Die offiziellen Begleiter vereisen, aber „wir machen sofort etwas ab“. Biermann, „sehr präsent und sensibel; dazwischen seine Kauz-Mienen; ein völlig unverschüchterbarer Mann ... der erste Freie seit Tagen, der erste Kommunist“, Biermanns „rasante Heiterkeit“ nimmt Frisch im Sturm ein. Und klarsichtig erkennt er, dass Biermanns Kraft in seiner Zugehörigkeit zu dem System wurzelt, das seine Texte unterdrückt. Auch Jurek Becker besucht er im Einfamilienhaus, es geht ihm gut, „man mag ihn sofort“. Immer wieder ist Frisch von der Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft der Ostler hingerissen: „Das Menschliche hat Vorrang.“
Vor allem aber gefällt ihm, dass die Ostdeutschen nicht nur „Vorrätiges“ reden, nicht nur „ready-made-Geschichten“ repetieren, dass hier Gespräche möglich sind, bei denen die Gedanken noch verfertigt werden. Es beeindruckt ihn, wie ernst die Literatur genommen wird. Er trifft sie alle, Böttcher und Bierwisch bei Biermann, Christa und Gerhard Wolf im Opern-Café, Günter Kunert, der war in den USA, aha, der kann reisen, bei Jurek Becker. In diesen Porträts der Ost-Berliner Szene, ihrer Debatten und fröhlichen Räusche, ihrer Vorsicht vor Denunzianten im politischen Meinungsaustausch, da läuft das Journal zur Hochform auf. Das ist literarische Zeitzeugenschaft vom Feinsten.
Ein naiver Romantiker ist Frisch aber nicht. Er sieht das Duckmäusertum und die grauen Gesichter. Und Plenzdorf findet keine Gnade. Seinem Stück „Die Leiden des jungen W.“ attestiert er zwar purgatorische Wirkung, aber eigentlich findet er es „simpel, dramaturgisch primitiv... provinziell“. Und dessen Film „Paul und Paula“, den findet er lausig.
Schon toll, wie ergiebig die scheinbare Banalität sein kann.