„Maybrit Illner“ zu Armut: Spahn redet die Dinge schön

Berlin - Der Befund ist eindeutig: Zehn Prozent der Deutschen besitzen 60 Prozent des Vermögens. Mehr als die Hälfte dieser Besitztümer wird vererbt oder per Schenkung an die Nachkommen gesichert. 40 Prozent der Bundesbürger aber haben keine Ersparnisse, vielleicht auch deshalb, weil 25 Prozent im Niedriglohnsektor arbeiten. Maybrit Illners Redaktion begann die Sendung mit diesen Zahlen – zum Unmut eines Gastes.

Jens Spahn, CDU und derzeit Bundesgesundheitsminister, gefiel das gar nicht. Erstens ist er in der seit 13 Jahren regierenden Partei, die für die Entwicklung mitverantwortlich ist, zweitens will er Vorsitzender dieser Partei werden und kann ein derart realistisches Bild der Lage nicht gebrauchen. Also verlegte Spahn sich im Lauf der Sendung darauf, die Dinge schön zu reden. 

Problem bei der Vermögensverteilung

Gewiss, man habe da „ein Problem bei der Vermögensverteilung“, aber es sei doch alles besser geworden. Und als es später gar um die Unfähigkeit, besser: den Unwillen der Regierung ging, die Steuerschlupflöcher zu schließen (ohne die die kriminellen Cum-Ex-Geschäfte kaum möglich wären), da wollte der Christdemokrat lieber das Thema der Sendung wechseln. Diese „sozioökonomischen Verteilungsfragen“ seien doch gar nicht das, was die Menschen vor allem umtreibe. Moderatorin Illner bestand aber darauf.

„Billige Arbeit, Abstiegsangst – wer stoppt die Spaltung des Landes?" lautete das Motto, und die drei Polit-Profis in der Runde, außer Spahn noch Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, vermochten ihre unterschiedlichen Positionen trennscharf deutlich zu machen.

Dreyer bilanzierte anders als Spahn

Malu Dreyer bilanzierte anders als Spahn, man könne nicht zufrieden sein. Es gebe keine Balance in der Gesellschaft. Auch die SPD setzt sich ja von dem von ihr geschaffenen Hartz IV-System ab (das die CDU beibehalten will). Man könne schließlich heute nicht so tun, als lebten wir noch in der Zeit vor 15 Jahren; man brauche einen Sozialstaat der Zukunft. Zunächst gelte: „Wir brauchen höhere Löhne.“ Mehr Tarifverträge sowie eine verlässliche Rente seien ebenfalls nötig: Die Lebensleistung müsse gewürdigt werden.

Robert Habeck vermochte detailliert darzulegen, warum er zum Beispiel das System Hartz IV ändern will, wobei er mit Malu Dreyer darin übereinstimmte, dass das bestehende Sozialsystem für eine andere Problemlage geschaffen worden sei. Es herrsche heute, anders als vor 15 Jahren, Fachkräftemangel.

Extremer Wandel der Arbeitswelt

Dem grünen Vordenker geht es um eine angemessene Reaktion auf den „extremen Wandel der Arbeitswelt“: Die Digitalisierung werde ein ungekanntes Maß an Flexibilisierung von den Arbeitnehmern verlangen. Die Politik müsse für ein Sicherheitsnetz sorgen. Denn eine weitergehende soziale Spaltung lasse das Vertrauen sowohl in die Politik als auch in die Zukunft überhaupt erodieren. „Die Mitte wird dünner.“

Wenn wie jetzt die Arbeitslosenstatistiken von um die fünf Prozent durch die Medien gehen, dann werden die Zahlen des Niedriglohnsektors stets verschwiegen. Der sei damals einkalkuliert worden, so Habeck. Er plädiert dafür, dass Hartz IV-Empfänger künftig weniger von ihrem Zuverdienst abgeben müssen. Sanktionen seien schlechter, als Anreize zu schaffen: „Die Leute sollen ermutigt werden“.

„Sie wollen wieder Steuern erhöhen“

„Sie wollen wieder Steuern erhöhen“, warf da Marie-Christine Ostermann ein, Unternehmerin im Lebensmittelgroßhandel und FDP-Mitglied. Habeck will aber Steuerschlupflöcher schließen und so das Geld aufbringen und warf Spahn vor, dass die Regierung da kneife. Da kniff auch Spahn.

Der Christdemokrat, der seine Popularität nicht nur seinen markigen Sprüchen, sondern auch häufigen Auftritten in Talkshows wie dieser verdankt, offenbarte seine konservative Seele, indem er zum Besten gab: Wer morgens aufstehe, müsse mehr haben, als der, der nicht aufstehe.

Übliche Methode der Rechten

Das erinnerte Habeck nicht ganz zu Unrecht an Pädagogik mit dem Rohrstock. Großhändlerin Ostermann sprang dem CDU-Mann bei: Es gehe nicht ohne Druck. Robin Alexander, Chefreporter bei Springers „Welt“, senkte das Niveau noch ein wenig, indem er fragte, warum ein junger Mann denn einen Termin beim Arbeitsamt verpassen könne.

Doch sanktioniert werden gerade mal drei (!) Prozent der Hartz IV-Empfänger. Warum wollen Sie denn die anderen 97 Prozent drangsalieren? fragte Habeck. Es ist die übliche Methode der Rechten, erfolgreich angewandt bei der Frage der Zuwanderung: Zahlenmäßig lächerlich geringe Probleme werden zum Debattenthema aufgebauscht, so war es schon beim Thema „Asylmissbrauch“.

Ähnlich verhielt sich Spahn, als er die Frage stellte, ob er und Habeck auch im ZDF-Studio „die Toiletten putzen“ könnten. Könnten sie. Aber wohl nicht in diesem Leben. Die Menschen scheuten das Hartz IV-System, erklärte Habeck; sie tauchten zu 56 Prozent ab, statt sich den Behörden auszusetzen.

„Armut“, sagt ein 85-jähriger Bergmann in Jobst Knigges Film über die Steinkohle (Sendung bei arte am 4./5. Dezember), „ist ja nicht nur Besitzlosigkeit, sondern auch Demütigung.“ Das sollte man den Entscheidern in den Arbeitsämtern in die Handreichung schreiben. Und Jens Spahn ins Poesiealbum.

„Maybrit Illner“, ZDF, von Donnerstag, 29. November, 22.15 Uhr.