Meinhard Miegel: „Wir haben völlig die Kontrolle verloren“

In seinem neuen Buch „Hybris – Die überforderte Gesellschaft“ wirft Meinhard Miegel dem modernen Menschen grenzenlose Selbstüberschätzung vor. Entfesselte Finanzmärkte, unkontrollierbare Datenmengen und aus dem Ruder laufende Großprojekte – all das sind für den Wachstumskritiker Symptome einer Gesellschaft, die komplett überfordert ist.

Herr Miegel, Sie sehen den Menschen in der biblischen Tradition der Turmbauer zu Babel. Weshalb?

Die Parabel vom Turmbau zu Babel steht für eine wichtige Menschheitserfahrung. Wer immer weiter und höher will, stößt irgendwann an Grenzen: Wenn er diese nicht respektiert, scheitert er. Ob Berliner Flughafen, Elbphilharmonie oder Weltkongresszentrum Bonn – die Bauherren sind von ihren Werken offenbar überfordert. Und das sind noch die harmloseren Beispiele. Viel kritischer wird es, wenn alle Lebensbereiche durchdrungen werden von diesem Geist der Effizienz und Expansion: Bildung, Kunst und Kultur. Selbst eine so großartige Idee wie die europäische Einigung wurde dem Diktat von Wirtschaftsinteressen und materieller Expansion geopfert.

Worin liegt die Gefahr einer Gesellschaft, die nur nach Beschleunigung und Entgrenzung strebt?

Die Gefahr liegt darin, dass sie die Kontrolle über die Entwicklung verliert und aus der Kurve getragen wird. Dass diese Gefahr nicht abstrakt ist, zeigt der Finanzmarkt. Kein Mensch kann da noch beurteilen, was eigentlich los ist. In diesem Markt schwappen Billionensummen weitgehend unkontrolliert durch die Gegend. Oder nehmen Sie nur viele der großen Unternehmensfusionen. Jede zweite ist ein mehr oder minder desaströser Flop, durch den Arbeitsplätze und Kapital in gigantischem Umfang vernichtet werden. Warum? Die Initiatoren waren größenwahnsinnig und überfordert. Aus der Hybris – also der Selbstüberschätzung – erwächst die Unfähigkeit, Dinge sinnvoll zu gestalten.

Diese Überforderung ist Konsequenz einer Gesellschaft, die auf Wachstum gründet. Aber ohne Wachstum ist der Wohlstand in Gefahr. Also rennen wir, um den Platz zu halten. Ist das nicht plausibel?

Wir rennen und rennen, und alle anderen rennen auch. Aber wohin? Vordergründig geht es um die Erhaltung und Verbesserung unseres Lebensstandards. Das Missliche ist nur, dass wir bei der Verfolgung dieses Ziels längst die Tragfähigkeitsgrenzen der Erde hinter uns gelassen haben. Würden alle so wirtschaften wie wir Deutsche, bräuchte die Menschheit schon jetzt 2,6 Globen. So sind es „nur“ 1,5. Mit unserem Rennen zerstören wir unsere Lebensgrundlagen. Deshalb der Appell von Bundeskanzlerin Angela Merkel, noch in dieser Dekade eine Art des Wirtschaftens zu finden, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört.

Allerdings ein Appell ohne politische Konsequenzen …

Das ist leider richtig. Die politische Vorgabe ist weiterhin Wachstum, und zwar um fast jeden Preis. Der Europa-Wahlkampf hat das erneut in geradezu beklemmender Weise gezeigt. Wozu Europa? Von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit hörte und sah man vergleichsweise wenig, von der Entfaltung kultureller Vielfalt ganz zu schweigen. Im Vordergrund standen Wachstum und Beschäftigung.

Aber wer vom Gas geht, der fällt doch sofort zurück.

Auch das ist richtig. Aber irgendwie ähnelt die Situation doch der eines Menschen, der aus Angst vor dem Tod Selbstmord begeht. Um in einem zunehmend aberwitzigen Wettlauf nicht zurückzufallen, ruinieren wir unsere Gesundheit und gesellschaftliche Stabilität. Zumindest die wohlhabenden Länder sollten zur Vernunft kommen und sich fragen, was sie da eigentlich treiben. Und dann sollten sie das Tempo ein wenig drosseln. Zurückfallen werden sie damit noch lange nicht.

Langsameres Wachstum hat ja noch andere Folgen, wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty aktuell belegt hat: Wenn die Vermögen schneller wachsen als die Löhne, vergrößert sich die Schere zwischen Arm und Reich.

Pikettys Beobachtung dürfte empirisch gut fundiert sein. Nur was folgt daraus? Dass Erde, Mensch und Gesellschaft permanent überfordert werden müssen, weil wir politisch unfähig sind, bei niedrigen Wachstumsraten das Auseinanderdriften von wirtschaftlich Starken und Schwachen zu verhindern? Wenn dem so wäre, wäre dies die Bankrotterklärung der Politik. Aber ich glaube nicht, dass es hier Zwangsläufigkeiten gibt. Die Politik kann und muss verhindern, dass niedriges Wirtschaftswachstum einseitig zu Lasten wirtschaftlich Schwacher geht. Anderenfalls könnte Wachstumsschwäche zu einer Gefährdung der freiheitlichen Demokratie werden.

Wie soll die Politik gegensteuern?

Zunächst müssen Menschen gegensteuern. Die wirtschaftlich Starken müssen begreifen, dass sie nur Treuhänder ihres Vermögens sind und dem Gemeinwohl zu dienen haben. Aber ich bin Realist genug, um zu sehen, dass viele gar nicht daran denken, andere an ihrem Wohlstand teilhaben zu lassen. Die Politik wird also intervenieren müssen. Das betrifft vorrangig die Behandlung von Erbschaften. Was ein Mensch im Leben erworben, aber nicht benötigt hat, sollte nicht ungeschmälert an die nächste Generation vererbt werden. Ein Großteil der Vermögensungleichheit hat hier ihren Ursprung. Erbschaft türmt sich auf Erbschaft. Das bekommt keiner Gesellschaft auf Dauer. Von der Wirksamkeit einer umfassenden Erbschaftsteuer hängt ab, ob darüber hinaus noch eine substanzielle Vermögenssteuer notwendig ist.

Das Bewusstsein, dass wir – nicht nur beim Nutzen natürlicher Ressourcen – auf Kosten anderer leben, ist eher gering ausgeprägt. Wer hat schon ein Problem damit, qualifizierte Zuwanderung aus Entwicklungsländern zu fordern?

Ja, das ist wirklich besorgniserregend. Wenn hierzulande Pflegekräfte knapp werden, werden diese aus Polen oder Ungarn geholt. Wenn auf dem Arbeitsmarkt der Nachwuchs spärlich wird, heißt es, Drittländer sollen ihn liefern, und zwar qualifiziert. Dass dies im Grunde eine parasitäre Gesinnung ist, ist den meisten nicht bewusst. Sie verlassen sich darauf, dass andere, zumeist recht arme Völker, die Lasten schultern, die so wohlhabende Völker wie wir Deutsche nicht länger schultern wollen: ausreichende Investitionen in Kinder und deren Ausbildung. Dabei machen sich die Wenigsten klar, dass qualifizierte Kräfte – von Krisen wie derzeit in Südeuropa vielleicht einmal abgesehen – überall rar sind. Der Ruf nach qualifizierter Zuwanderung muss deshalb ein Weckruf sein. Ein Volk, das glaubt, nur bei Zuwanderung florieren zu können, geht einen riskanten Weg.

Egal ob Finanzkrise oder Big Data – niemand in der Politik vermittelt mehr den Eindruck, den Überblick zu haben. Welche Folgen hat die Beschleunigung für die Demokratie?

Die Politik ist außerstande, die Erwartungen der Bürger zu erfüllen. Sie weiß nämlich selbst nicht, was zu tun ist. Das Gleiche gilt für das Finanzwesen. Das ist der Kern der Hybris und gilt für viele Lebensbereiche: der weitgehende oder auch völlige Kontrollverlust. Natürlich wird dies kaum ein Politiker auf offener Bühne oder ein Finanzberater im Kundengespräch sagen, aber im vertrauten Kreis ist dies durchaus zu hören: Wir durchschauen das alles nicht mehr und haben keine Ahnung, was wir machen sollen. Den Menschen ist ihr Werk über den Kopf gewachsen. Das erzeugt Frustrationen und ein Gefühl der Ohnmacht. Eine Folge davon ist Politikverdrossenheit.

Auf der Suche nach den Ursachen für die um sich greifende Maßlosigkeit stellen Sie nichts weniger als die Frage nach dem Sinn des Lebens ...

Ja, weil viele Menschen im westlichen Kulturkreis glauben, sie könnten durch eine fortschreitende Entgrenzung gerade auch im wirtschaftlichen Bereich ihrem Leben einen Sinn geben. Die Formel ist: Wer einen gut bezahlten Job, ein Haus und ein Auto hat, dessen Leben ist sinnvoll. Früher oder später merken jedoch viele, dass es damit nicht getan ist. Die Krux ist, dass in den westlichen Gesellschaften die letztlich transzendentale Sinnfrage, auf die jede Kultur eine plausible Antwort geben muss, mit so banalen Dingen wie der Steigerung von Konsum und Wettbewerbsfähigkeit beantwortet werden soll. Das funktioniert jedoch allenfalls vorübergehend. Bei uns funktioniert es nur noch abnehmend, zumal die nach Entgrenzung strebenden Kulturen die Menschen überfordern.

Welcher Sinn könnte denn an die Stelle von Produzieren und Konsumieren treten?

Dass sich die Menschen wieder mehr ihrer selbst bewusst werden, still werden, in sich hineinhören, ihre Umwelt mit allen Sinnen wahrnehmen, sich als Teil eines größeren Ganzen verstehen. Vor einer Zeit berichtete mir ein buddhistischer Mönch, wie er Topmanagern wieder beibringt, zu hören, zu sehen, zu riechen und zu schmecken. Dieser Verlust existenzieller Verankerung ist ein hoher Preis für die Anhäufung nicht selten überflüssiger Gütermengen.

Sie propagieren als Ausweg einen Paradigmenwechsel hin zum Maßhalten. Wie sieht dieser Wechsel aus?

Mir geht es nicht so sehr um Maßhalten als vielmehr um eine neue Balance. Unsere Gesellschaft ist seit Generationen auf Materielles fokussiert. Das hat sie materiell reich und immateriell arm gemacht. Auf diesem Weg immer weiter voranzuschreiten, ist nicht mehr Erfolg versprechend. Bemühen wir uns deshalb, nicht immer Neues zu schaffen, sondern das, was wir haben, intensiver zu nutzen und vor allem zu genießen. Frei gestaltbare Zeit ist doch eine solche Kostbarkeit, dass sie ein Weniger an oft überflüssigen materiellen Gütern leicht aufwiegt.

Konsum wird als Ausdruck von Freiheit empfunden. Welchen Freiheitsbegriff setzen Sie dem entgegen?

Frei zu sein, zu konsumieren oder nicht zu konsumieren. Viele sind Sklaven des Konsums. Sie opfern ihre Lebenszeit für etwas viel Geringerwertiges.

Damit werfen Sie die Frage auf: Was ist mir wirklich wichtig?

Jeder Einzelne muss für sich die Frage beantworten, was er mit seinem Leben machen will. Und das ist nicht so einfach. Denn uns ist ja von Kind an eingebläut worden: Mache dich nützlich, produziere und konsumiere. Die meisten machen das für einige Jahrzehnte, bis sie müde und verbraucht sind und sich freuen, wenn ihre Rente um ein Prozent erhöht wird. Das war dann ihr Leben.

Die Kehrseite der Freiheit ist die Angst. In dem Fall die Existenzangst, die einen verleitet, sich dem Zeitdiktat zu unterwerfen.

Vielleicht nicht Angst, aber Unsicherheit. Freiheit und Sicherheit lassen sich nur bedingt verbinden. Freiheit erfordert Mut. Und der fehlt vielen. Die westlichen Gesellschaften sind sicherheitsversessen oder umgekehrt: mutlos. Ich glaube, viele sind einfach überfordert. Sie machen die Erfahrung, immer weniger selbst steuern zu können. Das veranlasst sie, sich ängstlich an irgendetwas zu klammern.

Wie groß ist Ihr Vertrauen, dass wir den Paradigmenwechsel schaffen?

Der Kreis derer, die begreifen, dass sich an unseren Lebensformen etwas ändern muss, wächst. Ob das reicht, die Wende zu schaffen, weiß ich nicht. In nicht allzu ferner Zukunft muss es uns gelingen, Probleme nicht länger durch Expansion zu lösen. Sonst scheitert die uns vertraute Kultur.

Das Gespräch führte Alexandra Ringendahl.