Deutscher Filmpreis : Acht Lolas: „Systemsprenger“ ist der große Gewinner des 70. Deutschen Filmpreises
„Systemsprenger“ von Regisseurin Nora Fingscheidt ist der große Gewinner des Deutschen Filmpreises. Die Lolas wurden in diesem Jahr bei einer Geistergala ohne Saalpublikum vergeben.

Berlin - Es war bereits eine Stunde nach Mitternacht, als in der Nacht zum Sonnabend feststand, dass das Drama „Systemsprenger“ der große Gewinner des Deutschen Filmpreises 2020 sein würde. Die Goldene Lola für den besten Film krönte einen (langen!) Abend, der, um einmal im Bild zu bleiben, selbst die kühnsten Träume der Filmemacher gesprengt haben dürfte. Zwar war der Film von Nora Fingscheidt mit zehn Nominierungen als ein Favorit ins Rennen gegangen. Doch dass es am Ende wirklich acht Trophäen werden würden, ist ein so spektakulärer wie verdienter Erfolg für diese Geschichte, die es dem Publikum nicht leicht macht.
Nora Fingscheidt erzählt von dem Mädchen Benni, zehn Jahre, für das es keinen Platz im Leben zu geben scheint. Auf jeden Versuch, sie in „geordnete Verhältnisse“ zu bringen, reagiert Bennie aggressiv – gegen sich, ihre Mutter, ihre Pflegefamilie, ihre Sozialbetreuer. Als die elfjährige Helena Zengel für die Lola als beste Hauptdarstellerin aufgerufen wurde, sah man sie im schwarzen Glitzerkleid zu Hause vor dem Kühlschrank sitzen, im Off kreischte die Mutter, das Kind dankte seiner Agentur, wie man das als Profi so macht.
Das war der erste sehr spezielle Moment in einer speziellen Nacht des Films. Wegen der Corona-Regeln wurde die Zeremonie aus einem fast leeren Studio in Adlershof übertragen. Die meisten Laudatoren und alle Preiskandidaten wurden per Video zugeschaltet. Nach Wochen der Isolation waren etliche Vollbärte zu verzeichnen, hier und da aber auch das Bemühen, der Extremsituation eine feierliche Note zu verleihen.
Die Schauspielerin Gabriele Maria Schmeide (Beste Nebendarstellerin) warf mit Konfetti, Charly Hübner trug Jackett und Jessica Schwarz ein schönes Kleid. Ansonsten wurde viel improvisiert. Albrecht Schuch (Beste Haupt- und Nebenrolle) wechselte hinter sich einfach die Filmplakate aus. Erst „Berlin Alexanderplatz“, dann „Systemsprenger“. Er hatte Glück, dass er jedes Mal einen Preis gewann. Man muss sich mal in all jene Nominierten hineinversetzen, die nur aus ihrem Bildschirmfenster gucken durften, um gleich wieder ausgeknipst zu werden.
Wie alle anderen konnte auch Nora Fingscheidt ihren Preis als beste Regisseurin nicht persönlich entgegennehmen. Was aber nicht an den geltenden Abstandsregeln lag. Die 37-jährige Filmemacherin dreht zurzeit im kanadischen Vancouver mit Sandra Bullock und war von dort zugeschaltet. Auftraggeber dieser Produktion ist der Streamingdienst Netflix, was viel über die Situation der Branche aussagt. Das Kino als Kunst kann nur überleben, wenn es sich den Bedingungen des Marktes anpasst, und diese werden nach der Corona-Krise mit Sicherheit andere sein als vorher.
Mehrmals in der zweieinhalbstündigen Übertragung wurde das Überleben des Kinos beschworen. Es klang wie Pfeifen im Walde – oder besser im leeren Kino.
Bewegend äußerte sich dazu der 87-jährige Regisseur Edgar Reitz, der für herausragende Verdienste um den deutschen Film geehrt wurde. Sein Laudator Giovanni di Lorenzo würdigte ihn als großen Geschichtenerzähler, der mit seiner Trilogie „Heimat“ dem Genre der Serie eine neue künstlerische Dimension abgewonnen habe – und das bereits vor vierzig Jahren. Edgar Reiz antwortete mit einem Blick nach vorn: „Wenn das Kino wieder eröffnet, muss es das Kino der Zukunft sein.“ Dann hörte man neben ihm seine Frau Salome Kammer flüstern: „Komm Edgar, jetzt stoßen wir an.“ Als sie sich küssten, merkte man auf einmal, wie intim so eine Berührung wirkt, wenn das fortwährende Geküsse und Geherze so einer Preisverleihung aus bekannten Gründen wegfällt.
Normalerweise würden sich bei der Lola für das Lebenswerk alle im Saal zu Standing Ovations erheben, aber da war ja niemand. Wie so oft an diesem Abend herrschte tosende Stille. Die Veranstaltung, sonst ein summendes Treffen der Branche, fiel diesmal buchstäblich in ein schwarzes Loch. Alle Energie konzentrierte sich auf den moderierenden Schauspieler Edin Hasanovic, der tapfer, wenn auch nicht immer glücklich, durch die Geistergala führte.
Manch mittlerer Gag, über den sonst freundlich hinweggeklatscht worden wäre, verpuffte mit langem Nachhall. Sein Mut, diese eigentlich unlösbare Aufgabe anzunehmen, kann nur bewundert werden. Statt 1300 Leute, wie noch im vorigen Jahr, arbeiteten diesmal nur 60 Menschen im Hintergrund der Show, die erneut von Sherry Hormann inszeniert wurde. Sie setzte auf viel Schwarz in den Kulissen, was angesichts der düsteren Gesamtsituation vielleicht nicht die beste Idee war.
Für die Datenqualität kann keiner, wahrscheinlich nicht mal Digitalminister Scheuer. Ausgerechnet bei der finalen Danksagung von Nora Fingscheidt riss die Verbindung nach Kanada ganz ab. Das Resultat war eingefrorene Freude. Man kann das auch als Auftrag sehen, die Bilder wieder zum Laufen zu bringen.
Zur Folklore der Filmpreisvergabe gehört es, sich hinterher darüber zu mokieren. Zu zäh, zu selbstverliebt, zu viele Gerede. Aber so sehr wie in diesem Jahr hat man sich wohl noch nie nach einer ganz normalen Gala gesehnt. Gern auch mit Überlänge, aber nie wieder allein zu Haus. Man hat ja nicht mal jemanden zum Lästern.