Aufklärung mit Totenkopf: „Idomeneo“ an der Staatsoper

In der Regie von David McVicar und mit Simon Rattle am Pult wird aus Mozarts Aufklärungsoper ein fortschrittsskeptischer Mythos

„Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden. Szene mit Magdalena Kožená (Idamante), Andrew Staples (Idomeneo), Linard Vrielink (Arbace), Staatsopernchor, Movement Group.
„Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden. Szene mit Magdalena Kožená (Idamante), Andrew Staples (Idomeneo), Linard Vrielink (Arbace), Staatsopernchor, Movement Group.Bernd Uhlig

Der neue „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden, vorgestellt am Sonntag, ist ein Missverständnis. Der Regisseur David McVicar hat einen riesigen Totenschädel auf eine buchstäblich wüste, vor Trockenheit gesprungene Spielfläche gestellt. Das sieht tribal, archaisch, rituell aus. Das Programmheft spricht von Mythologie, der die Figur des kretischen Königs Idomeneus entstammt. Ein stoffgeschichtlicher Text des Programms stellt fest, dass die Geschichte von Idomeneos Gelübde, bei Rettung aus Seenot den ersten Menschen zu opfern, der ihm begegnet und dann leider sein Sohn ist, nicht antik oder mythologisch ist, sondern erst seit dem frühen 18. Jahrhundert erzählt wird.

Wolfgang Amadé Mozarts erste Meisteroper ist eine Aufklärungsgeschichte und eben keine mythologische Erzählung, und nichts anderes hat das Jahrhundert der Aufklärung zur Erzählung dieser Begebenheit bewegt, als den Umschlag des mythologischen Zeitalters in die Aufklärung darzustellen. Zwei Nebenfiguren verkörpern dabei die Extrempositionen: Elettra steht als Atridentochter für den archaischen Pol, für die Lösung durch Gewalt. Handelt jede Opera seria davon, wie das ungebändigte Gefühl ins Chaos führt – wie eben Idomeneo durch sein im Affekt der Todesangst geleistetes fatales Gelübde –, so repräsentiert Elettra diese Problematik in auswegloser Reinheit.

Geraubte Utopie

Die zweite Nebenfigur dagegen, Idomeneos Berater Arbace, singt in seiner zweiten Arie davon, dass das Leben Idomeneos und seines Sohnes Idamante wichtiger als der Bestand des kretischen Reiches ist; Menschenopfer will die Gottheit nicht. Es ist vollkommen irre, wenn McVicar diesen Arbace am Ende zum Mörder am abgedankten Idomeneo macht, als würde der Idee des Guten auf dem Fuße und mit Zwangsläufigkeit der Terreur der Revolution folgen. Der acht Jahre vor der Französischen Revolution uraufgeführte „Idomeneo“ zeigt im Gegenteil, wie das moralische Handeln aus dem Zurückschrecken vor Blut und Gewalt entsteht – McVicar raubt dem Stück seine utopische Kraft und Reinheit zugunsten einer banalen Fortschrittsskepsis.

Nicht nur konzeptionell ist McVicars Inszenierung fragwürdig, sondern auch im Detail. Dass nicht viel passiert, kommt zunächst dem Hören zugute. Aber das düstere Bühnenbild von Vicki Mortimer vermag keiner der bewegteren Imaginationen der Musik etwas an die Seite zu stellen. Die Gestik ist sparsam und die erste große Bewegung Anna Prohaskas in der Rolle der trojanischen Prinzessin Ilia beeindruckend – aber Andrew Staples fuchtelt als Idomeneo reichlich leer mit Schwertern und Speeren herum. Warum Elettra japanische Hoffräulein mit sich führt, ist vollends nicht nachvollziehbar – in ihrer ungezähmten Emotionalität ist sie maximal unjapanisch. All das regt weder auf noch begeistert es: Selten geht in Berlin der Auftritt des Regieteams beim Schlussapplaus derart unauffällig vonstatten, ohne Ausschlag in Richtung Begeisterung oder Aggression.

Schlanker Klang

Fertig war dieser „Idomeneo“ schon vor drei Jahren – unmittelbar vor der Schließung der Opernhäuser wegen der Pandemie. Der Nachholtermin ist zufällig instruktiv: Im letzten November konnte man am selben Haus Mozarts „Mitridate“ sehen, die wahrlich beeindruckende Seria des 14-jährigen Wunderkinds, das alle Muster überbieten will. Der „Idomeneo“ überbietet nicht, sondern nimmt die arienlastige Seria auseinander und schafft ein musikdramatisches Miteinander der Figuren in einigen wenigen, wahrlich abgründig komponierten Ensembles – und die große Freiheit der Accompagnato-Rezitative, in denen die Arien nachklingen oder vorweggenommen werden.

Simon Rattle macht aus der angeblich so deutsch klingenden Staatskapelle ein beeindruckend schlank und mit sehr spezifischen Bläserfarben spielendes Mozart-Ensemble. Dem Stilwillen dieser Aufführung, ihrer Wachheit für den Raum zwischen barockem Affekt und moderner Empfindsamkeit, entspricht die Sängerbesetzung leider kaum. Andrew Staples’ britisch hell timbrierter Tenor, zu berührendem Piano fähig, klingt dennoch zu markant, um den Stimmungswechseln der Partie gerecht werden zu können. Anna Prohaska als Ilia klingt eher nach deutschem Singspiel als nach Seria-Pathos und wirkt unspezifisch. Olga Peretyatko ist ab dem zweiten Akt eine Elettra mit auch klangvoll weichen Anteilen, ihre furiosen Momente könnte man sich indes durchschlagender vorstellen. Einzig Magdalena Kožená als Idamante steht im besten Einvernehmen mit dem, was ihr Gatte am Pult vorschlägt – nicht unbedingt darstellerisch, aber stimmlich in der Beglaubigung eines reflexiven und empfindsamen Charakters eine Klasse für sich.

Idomeneo 23., 26., 28., 30. März, jeweils 19 Uhr in der Staatsoper Unter den Linden, Karten und Informationen unter Tel.: 20354555 oder www.staatsoper-berlin.de