Bachs Matthäus-Passion an der Deutschen Oper: Hört endlich auf damit!
Mit welchen Mitteln die von Benedikt von Peter inszenierte Matthäus-Passion Einspruch gegen die christliche Todesbesessenheit erhebt.

Das Christentum ist eine Religion im Zeichen des Todes. Die Heilsgeschichte vollendet sich in der Auferstehung Jesu Christi – aber zum Symbol wurde sein Kreuz. Der Theologe Karl Barth kritisierte Bachs Matthäus-Passion als „Trauerode, die durch die Osterbotschaft weder bestimmt noch auch nur begrenzt ist, in der Jesus, der Sieger völlig stumm bleibt.“ Der Philosoph Hans Blumenberg hielt dagegen: „Nur Leiden und Tod sind allen Evangelisten gemeinsam, sind durch die Kreuzesaffinität des ersten Theologen Paulus und seiner Gefolgsleute Augustinus und Luther zum Zentrum der christlichen Gedankenwelt geworden. Bach ist groß, weil er diese Zentrierung an sich genommen und zum Tönen gebracht hat.“
In der Deutschen Oper Berlin wurde am Freitag eine von Benedikt von Peter inszenierte Matthäus-Passion vorgestellt. Es ist eine wunderbare, nahezu einhellig gefeierte Produktion. Das Geschehen wird hier von Kindern dargestellt, sie wechseln die Rollen, erstarren in lebenden, von barocken Ausdrucksgesten bestimmten Bildern und verehren zum „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ am Ende des ersten Teils das Kreuz. In diesem Moment löst sich ein Mädchen aus der Gruppe und ruft: „Hört endlich auf damit!“ Es ist ein markerschütternder Einspruch: Hört auf damit, den Tod zu feiern!
Die christliche Todesbesessenheit ist mit dem Erfolg der Matthäus-Passion im 19. Jahrhundert auch in der profanen Kultur Deutschlands bestimmend geworden; sie spukt mehr oder minder verhüllt durch das Gesamtwerk Richard Wagners und prägte damit die deutsche Unheilsgeschichte. Auch deswegen hat das Werk auf der Opernbühne durchaus etwas zu suchen – und sei es, um die Kontinuität ihrer unbewusst noch immer mitgeschleppten Ideologeme zu brechen. Das gelingt Benedikt von Peter in einer so präzisen wie schönen Weise.

Die Solisten sind durchweg großartig: Hundert Facetten der Traurigkeit
Zunächst scheint die Bühne vor allem eine Struktur abzubilden: Das Ineinander von Bibeltext, Choralversen und Arien-Lyrik wird gespiegelt durch die weiße Bühne für die Kinder, aus der einzelne Momente auf eine Art Baldachin projiziert werden. Die Sänger agieren in Schwarz im schwarzen Umfeld, greifen auch manchmal auf die Kinder-Bühne. Bachs Doppelchörigkeit wird selbst verdoppelt: Chöre stehen sich in den Seitenlogen gegenüber, befinden sich im 2. Rang und ins Publikum gemischt, Instrumentalensembles sitzen rechts, links, im 2. Rang und innerhalb einer weiteren Zuschauerbestuhlung auf der Bühne.
Diese extravagante Raummusik leitet Alessandro De Marchi erstaunlich reibungsfrei. Er wählt durchweg rasche Tempi, die dennoch durch entschiedene Phrasierung niemals flach wirken. Das Orchester der Deutschen Oper, an sich kaum je mit Barockmusik in Berührung, führt der Künstlerische Leiter der Innsbrucker Festwochen für Alte Musik zu einem berückend stilechten Spiel mit zauberhaften Bläser- und Violinsoli. Dem Chor der Deutschen Oper fällt die flexiblere Tongebung und ein leichteres Singen deutlich schwerer. Die Solisten dagegen sind durchweg großartig: Allen voran wohl die Altistin Annika Schlicht mit hundert Facetten der Traurigkeit, aber kaum weniger überzeugend der helle Tenor Kieran Carrels und der farbreiche Sopran von Siobhan Stagg. Auch Joel Allison als Bass singt trotz mangelnder Tiefe mit einem lyrischen Reichtum, der tief berührt.
Natürlich ist die Matthäus-Passion alles andere als eine Oper, und das macht Benedikt von Peter mit dem stummen Spiel des Kinderchores der Deutschen Oper auch deutlich. Im ersten Teil, bis zum Einspruch des Mädchens, wirkt die Verdopplung des Evangelistenberichts durch die Szene, irritierend einfach – aber die Kinderoptik ist eben keine Verschiebung ins Herzige, sondern in einen Bereich, in dem das Grausame umso grausamer wirkt, weil zum einen die kindliche Aggression unmittelbarer, zum anderen bedrohte Kinder verletzlicher wirken.
Padraic Rowan als Christus strahlt Wärme aus
Mit dem Einspruch jedoch verliert die Szene ihre Unschuld. Die exaltierte vokale Gestik des Evangelisten Joshua Ellicott wird nun deutlich als eine didaktische und übertriebene. Sie beginnt sich von der engagierten Objektivität zu lösen, die man diesem Bericht gern zuschreiben würde; sie wird zuweilen zur Einschüchterung und gerät immer wieder in Konflikt mit den Gesten des Mitleidens, mit denen sich die Kinder zuweilen trösten. Es treten Züge des Disziplinierenden hervor – aber niemals wird aus solcher Kritik am Werk Denunziation – nicht zuletzt weil Padraic Rowan als Christus umso mehr Wärme ausstrahlt.
Zum „Ruhe sanfte“ des Schlusschors legen sich die Kinder unter Bettdecken zum Schlafen. Das Mädchen jedoch kommt mit eigenen Jüngerinnen und Jüngern – man denkt da natürlich an Greta Thunberg – auf die Bühne und reißt ihnen die Decken weg, damit sie auf(er)stehen: Eine Korrektur im Sinne Karl Barths? Auf jeden Fall eine säkulare Auferstehung in eine Wirklichkeit voller Fragezeichen, die die Kinder auf Schildern und Transparenten hinter Begriffe wie „Opfer“, „Verantwortung“ oder „Zukunft“ gesetzt haben.