Ende einer heiklen Beziehung: Wie es zu Anja Casparys Abgang bei Radio eins kam

Das Ende von Anja Caspary als Musikchefin bei Radio eins hat eine Vorgeschichte. Sie habe Leute abserviert, heißt es. Was ist da im Inneren von Radio eins los?

Vor kurzem noch Musikchefin bei Radio eins: Anja Caspary
Vor kurzem noch Musikchefin bei Radio eins: Anja CasparyAnnette Apel

Es wirkte so unbeschwert: Als Anja Caspary am Donnerstag, dem 2. März um 13.33 Uhr, per Facebook-Post ihren Weggang von Radio eins verkündete, erklang kein Wort der Bitterkeit. „Abschied – ich bin dankbar“, schrieb Caspary, bis dato Musikchefin des Senders, „für die lange und schöne Zeit bei radioeins“. Tenor des Posts: Sie sei stolz, 25 Jahre lang die Handschrift des Senders mitgeprägt zu haben. Aber wer sie kenne, so heißt es im Post, wisse auch, dass Veränderungen zu ihr gehören – „und dass ich es gelernt habe, Liebgewonnenes verabschieden zu müssen“.

Dieses „Müssen“ wirkte erst mal unscheinbar in diesem Kontext. Zumal Caspary damit schloss, dass man sich „sicher bald im rbb an anderer Stelle“ wieder hören werde. Garniert hatte sie die Farewell-Botschaft obendrein mit einem Foto von sich, auf dem sie einen Handstand macht, vor einem Radio-eins-Truck. Also Friede, Freude, Eierkuchen? Anfangs schien es so. Erstaunlich war indes, dass sich der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), zu dem auch Radio eins gehört, zur Personalie erst mal in Schweigen hüllte. Erst am Donnerstagabend um 20.48 Uhr, also mehr als sieben Stunden nach Casparys Post, wurde auf der RBB-Website verkündet: „Musikchefin Anja Caspary verlässt Radioeins – jedoch nicht den rbb“. Im Rahmen „einer Veränderung der Organisationsstrukturen“ werde Caspary „in einen anderen Programmbereich wechseln und neue Aufgaben übernehmen“.

Eine etwas unterkühlte, aber auch diffuse Ansage vonseiten des Senders. Eine, die irritiert – zumal jene RBB-Mitarbeiterinnen und -Mitrbeiter, die schon am Donnerstagvormittag um 11 Uhr an einer zehn Minuten kurzen Zoom-Konferenz teilgenommen haben. Mit dabei waren laut Informationen der Berliner Zeitung sowohl der RBB-Personalrat wie auch RBB-Programmdirektorin Martina Zöllner und Radio-eins-Programmchef Robert Skuppin. Skuppin, so heißt es, habe dann auch den Weggang von Caspary verkündet. Und freiwillig soll dieser nicht gewesen sein. „Sie wurde gefeuert“, bringt es gegenüber der Berliner Zeitung eine Radio-eins-Mitarbeiterin auf den Punkt, die in dem Call dabei war. „Noch am selben Tag musste sie ihren Platz im Büro räumen.“ Der RBB räumte inzwischen gegenüber der Berliner Zeitung ein, dass es „Vorwürfe zu schlechtem Klima in der Musikredaktion von radioeins“ gab, will aber keine Aussagen „zu den Hintergründen von Personalfragen“ machen. Anja Caspary selbst war für eine Stellungnahme gegenüber der Berliner Zeitung bislang nicht zu erreichen.

Nach außen beliebt, aber bei Radio eins umstritten: Anja Caspary

Wie konnte es nur so weit kommen? Während Anja Caspary, als Moderatorin fast von Anfang an dabei beim 1997 gegründeten Radio eins, nach außen hin zu den prägenden und auch beliebtesten Stimmen des Senders zählt, hat sie sich im Inneren des Senders wohl auch Feinde gemacht – spätestens seit ihrer Ernennung zur Musikchefin 2015. Und diese Feindinnen und Feinde, so kann man aus dem Inneren von Radio eins hören, hätten schwere Geschütze gegen Anja Caspary aufgefahren: Von einer 106-seitigen Materialsammlung gegen Caspary ist die Rede. Ein Dossier, welches das Bild einer tyrannischen Chefin zeichnen soll, die ihre Macht missbrauchte – und am Ende mutmaßlich untragbar wurde. Der Personalrat und die Frauenbeauftragte wurden offenbar eingeschaltet. Und auch Konfliktberaterin Christiane Fackeldey, als Mediatorin zwischen Caspary und ihren Kritikerinnen und Kritikern. „Als sich dann auch noch die neue Intendantin der Sache annahm“, so eine Radio-eins-Mitarbeiterin gegenüber der Berliner Zeitung, „war klar, dass Casparys Kopf rollt“.

Horcht man ins Innere von Radio eins, erklingt dort ein komplexes Echo von Caspary und wie sie dort ankam: Sie habe Leute „vergrault“, ja, gar „abserviert“, heißt es. Gemeint sein dürften etwa Wolfgang Doebeling und Freddie Dreamer, die in der Ära (oder wie manche sagen: Regentschaft) Caspary ihre Sendungen auf Radio eins aufgeben mussten. Caspary habe sich „kleine Hässlichkeiten“ erlaubt – und deren Wirkung unterschätzt. Mit Kritik sei sie scheinbar cool, aber taktisch unklug umgegangen: Sie, Caspary, sei eben Rock ’n’ Roll, soll sie oft gesagt haben, wenn jemand mit ihrem Führungsstil nicht klarkam. Das kam bei einigen gar nicht gut an. Zumal als hausintern bekannt wurde, dass ein Mitarbeiter seine Depressionen auf Casparys Führungsart zurückführt.

Eine mangelnde Kultur zu reden? Anja Casparys Abgang bei Radio eins

Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so heißt es, hätten sich im Klo verschanzt, um nicht Caspary ausgesetzt zu sein. Und das nicht nur, weil sie während der Maskenpflicht-Zeit, im Büro, mit ärztlichem Attest, ohne Maske aufgetaucht sein soll. Es soll so schlimm gewesen sein, dass der Sender Caspary bereits im Dezember ins Homeoffice verbannte – damit sie und ihre Crew möglichst wenig aufeinandertreffen. Schon damals habe Programmchef Robert Skuppin klargemacht, dass Caspary keine größeren Personalentscheidungen mehr treffen solle. Caspary, so berichten Teilnehmende des Meetings, habe überrascht gewirkt ob des großen Missmuts innerhalb der Redaktion – und zu Gesprächen appelliert.

Dem gegenüber gibt es aber auch diejenigen bei Radio eins, die Caspary verteidigen, ja, die schockiert und empört sind darüber, wie nun mit ihr umgegangen wird. Von Intrigen, von Kampagne gegen Caspary ist die Rede. „Der Ablauf ist katastrophal“, sagt ein Radio-eins-Mitarbeiter und beklagt beim Sender „eine mangelnde Kultur zu reden“. „Erst hat sich Radio eins so sehr mit ihr geschmückt – und sie dann dermaßen fertiggemacht“, sagt eine Mitarbeiterin des Senders. So etwas habe sie zuvor noch nie erlebt. Spricht man mit Unterstützerinnen und Unterstützern von Caspary, sieht die Lage nämlich anders aus: Für sie ist Caspary eine meinungsstarke, wirklich innovative Frau, die Visionen für den Sender hatte; die der Musik auf Radio eins (einem Sender, der traditionell viel wegen seiner Wortbeiträge gehört wird) eine neue Relevanz verschafft hat – mit einem musikalischen Programm jenseits der Charts, bei dem Moderatorinnen und Moderatoren, echte Musik-Profis, ihre eigenen Schwerpunkte setzen können.

Fans von Caspary bei Radio eins sagen: „Die hat sich den Arsch aufgerissen!“

Und sie brachte prominente Musiker zu Radio eins, etwa den Rammstein-Keyboarder Flake, der seit 2017 eine reguläre Sendung auf Radio eins hat. Bei den Hörerinnen und Hörern kam all das ausgesprochen gut an, was sich auch in den Quoten niederschlug. Caspary hat den Sender jünger und auch, ganz im Geiste Patti Smiths Credo von mehr Frauen in der Rockmusik, sehr viel weiblicher gemacht, etwa mit Moderatorinnen wie Christiane Falk und Raffaela Jungbauer – und zwar schon einige Jahre, bevor dies andernorts en vogue wurde. Klar, so sagen selbst Caspary-Fans, dass sie damit manche alten Männer vor den Kopf stieß.

Doch auch bei jenen, die Casparys Energie und Einsatz bewundern („was die geackert hat, Wahnsinn!“, „die hat sich den Arsch aufgerissen!“), klingt immer mal durch, dass sie mit ihren „tausend Ideen“ und immer die Hörerinnen und Hörer im Blick eine strenge, perfektionistische Chefin gewesen sei, die „andauernd aneckte“: kompromisslos etwa, wenn es mal darum ging, aus familiären Gründen eine Sendung aufzuzeichnen, statt sie live zu machen. Viel habe sie von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abverlangt: die Lounge-Konzerte, das Radio-eins-Parkfest, die Motto-Sommersonntage, die jährliche Schallplatte, alles sollte möglichst hochwertig sein. Die Sendungen sowieso. Was in Zeiten sinkender Budgets eben auch heißt: Es gibt weniger Honorar-Budget für die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also Mehrbelastung für die festen, die die Arbeit auffangen müssen. Hat der Perfektionismus der Chefin bei ihren Untergebenen einen Druck ausgelöst, den sie ihr nun als Machtmissbrauch auslegen? Oder war Caspary, wie manche beim Sender meinen, von Anfang an zwar eine super Moderatorin, der es aber an Führungsfeingefühl fehlte? „Sie hat es nicht verstanden, ihre Mannschaft hinter sich zu kriegen“, so ein Mitarbeiter.

RBB und Radio eins wollen offenbar die Wogen glätten im Fall Anja Caspary

Dennoch hört man bei Teilen der Belegschaft eine Bewunderung für den Abgang von Anja Caspary heraus. Für ihre Haltung, die sich in dem Foto mit dem Handstand in dem Facebook-Post von Donnerstagnachmittag ausdrückt. Von Stolz und Würde, aber auch von Super-Show ist die Rede. Und das auf schwierigem Terrain. „Das kumpelhafte Verhalten bei Radio eins täuscht oft über die harten Bandagen hinweg“, so eine Mitarbeiterin. Radio eins sei „ein Sumpf und keine glückliche Familie“. Die Stimmung ist nun erst mal aufgeräumt, hört man. Selbst Befürworter von Caspary seien mitunter erleichtert, dass nun die Wogen geglättet seien, nach all den hausinternen Konflikten. Ist es die Ruhe nach oder vor dem Sturm?

Zur beruflichen Zukunft von Anja Caspary hat der RBB inzwischen Neuigkeiten herausgerückt: „Caspary wird als crossmedial arbeitende Popkultur-Korrespondentin alle Ausspielwege des rbb, also online, Fernsehen und Radio mit Beiträgen beliefern und entsprechende Angebote auch an andere ARD-Häuser machen“, schreibt die Pressestelle. Zudem betont man dort Casparys Qualitäten: „Sie bringt auf diese Weise ihre umfangreiche Expertise und ihre exzellenten Kontakte in der Musikszene für den rbb, die gesamte ARD und die Weiterentwicklung der Angebote ein.“ An einer Eskalation der Konflikte, das zeigen die Sprache und auch die Zurückhaltung, sich zu Details zu äußern, hat man hier ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse. Ob das einer Aufarbeitung wohl im Wege steht, bleibt abzuwarten.


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