Der Psychopartykeller ist politisch: die neue Platte von Hot Chip haut rein

Das Quintett aus London war schon in den Nullerjahren bahnbrechend, als es Gitarren-Britannien elektrisierte. Das nun achte Album brilliert anders als gedacht.

Indietronic-Pioniere aus London: Hot Chip.
Indietronic-Pioniere aus London: Hot Chip.Hill Jenkins

Sind das überhaupt Hot Chip? Wer die erste halbe Minute der frischgepressten Platte „Freakout/Release“ hört und Hot Chip kennt, wird wohl nur staunen: Eine wesentliche Ingredienz der meisten Songs des britischen Quintetts war doch stets die stampfende Kickdrum – fusioniert mit Harmonien, die so ambivalent zwischen euphorisierendem Bällebad und melancholischem Nebelnachtwandeln schillern, dass sich viele sicher schnell und zu Recht an die Pet Shop Boys erinnert fühlen; zumal ob der androgynen Kopfstimme von Hot-Chip-Sänger Alexis Taylor, die an Pet-Shop-Boys-Sänger Neil Tennant gemahnt. Das britische Quintett wackelte mit seinem Disco Noir immer zuverlässig erstklassig zwischen Tiefenphilosophie und Tanzbodenstudio 54.

In den ersten 30 Sekunden des Eröffnungstracks „Down“ nun auf dem neuen, achten Hot-Chip-Album „Freakout/Release“ ist aber weder von diesen Harmonieambivalenzen noch von den kickenden Bassfrequenzen etwas zu hören. Vielmehr fühlt es sich so an, als würde da ein niedliches Transistorradio rauschen mit einem funky-dreckigen, aber bassfreien Beat aus den ganz späten 1970ern. Und wenn einem dieser Beat vertraut vorkommt, hat das einen Grund: Er ist gesampelt aus dem Song „More Than Enough“ der Universal Togetherness Band, einer Funk-Formation, die um 1980 in Chicago weltbekannt war.

Dann, in der zweiten Hälfte der ersten Minute von „Down“ stellt sich aber mit dem androgynen Falsett von Alexis Taylor auf einem damit kontrastierenden, tanzbodentauglichen Fundament aus Bass doch der vertraute Hot-Chip-Effekt ein: Euphancholie – um an dieser Stelle mal den trefflichen Neologismus aus Benedict Wells’ starkem (und obendrein musikaffinem) Coming-of-Age-Roman „Hardland“ zu borgen. Euphorie + Melancholie = Euphancholie. Hot Chip eben. Die Band, die nach ihrer Gründung im Jahr 2000 in Britannien maßgeblich dazu beitrug, die Vormachtstellung der Britpop-Gitarren zu brechen. Übrigens auch mit vielen Zutaten aus einem Genre, das in den letzten beiden Jahren erst viele Mainstream-Pop-Acts für sich entdecken, von Jessie Ware bis Dua Lipa und gerade erst auch Drake und Beyoncé: Disco-House.

Britpop im Fahrstrom von Oasis hieß, neben Parka und Fischerhüten, meist auch: machohaftes Typen-Gehabe bis hin zu Prügeleien vor oder im Pub. Lad-Mentality, wie man es in Britannien nennt. Damit hatten Hot Chip nichts zu schaffen: Zwar haben auch Alexis Tayor und der zweite Sänger der Band, Joe Goddard, in ihren Teenagerjahren zusammen die Songs von Oasis nachgeschrammelt; als Hot Chip zogen sie dann aber die Lederjacken aus und tauschten sie gegen bunte Kostüme. Die spektakulären Oversized-Glamour Brillen von Alexis Taylor strahlten zeitweise locker mit denen von Elton John um die Wette.

Fasziniert von House und HipHop

Das Wichtigste aber natürlich: der Sound. Hot Chip waren da schon auf ihrem Debüt „Come On Strong“ (2004) mit ihrer elektronischen Ästhetik bahnbrechend in Indie-Gefilden: Synthesizer und computergenerierte Loops gesellten sich bei Hot Chip zu den Gitarren. Das war derzeit völlig ungewöhnlich – und sorgte daher auch für Irritation unter Indie-Connaisseuren: Wer sind diese Hot Chip und wo wollen die hin? In der zweiten Hälfte der Nullerjahre zogen aber andere Gitarren-Indie-Bands nach, wurden auch elektronischer. Editors und Phoenix beispielsweise. Der neue Genrebegriff Indietronic machte die Runde. Hot Chip indes waren nicht nur fasziniert von Italo Disco, Chicago House und Detroit Techno – nein, sie holten ihre Inspiration auch aus dem HipHop. Live covern sie liebend gerne eskalierend den Song „Sabotage“ der HipHop-Pioniere Beastie Boys aus New York City.

Einen astreinen Rapsong gab es allerdings bislang auf einem Hot-Chip-Album noch nicht. Nun aber doch! Für „The Evil That Men Do“ haben sich Hot Chip den kanadischen Conscious-Rapper Cadence Weapon eingeladen. Der Text ist auch für Hot Chip harter Tobak – obwohl sie ja noch nie davor zurückschreckten, auch die Abgründe unter der Falltür im Tanzboden zu erkunden; man denke nur an die existenzialistische Noir-Ballade „Made In The Dark“ (2008). Aber „The Evil That Men Do“ nun erkundet weniger die Schattenseiten der Seele, sondern mehr die Schattenseiten der Gesellschaft: Der Text bezieht sich unter anderem auf den Mordfall Sarah Everard, eine 33-jährige Frau, die 2021 von einem Polizisten in England vergewaltigt und ermordet wurde – arbeitet dann aber auch heraus, wie bestimmte Machtstrukturen dabei förderlich sind, das Schlimmste in Menschen zutage zu bringen. „The Evil That Men Do“ spannt den thematischen Bogen bis hin zu britischem Imperialismus und Kolonialverbrechen. Ja, Hot Chip hatten immer schon sozialrelevante Sujets in ihre Songs gepackt. Aber so knallhart politisch waren sie bis dato noch nie.

Ein eher klassischer Hot-Chip-Song auf der neuen Platte ist das bittersüße „Broken“. Er handelt davon, einer Person, die einem nahesteht, psychischen Support anzubieten. Die Person scheint seelisch zu straucheln, aber es ist eben doch ein Tabu (vielleicht ja unter Männern noch verstärkt), das auch anzusprechen. Beziehungsweise: Erst mal muss man dafür die richtige Sprache finden. So wie F. R. David in seinem Disco-Klassiker „Words“ 1982 beklagte, wie schwerfällig (wenn überhaupt) Worte der Liebe über die Zunge rollen, geht es Hot Chip nun darum, wie kompliziert Worte fürs mentale Leiden zu finden und zu teilen sind.

Wir sind gesellschaftlich eben konditioniert, die starke Fassade zu wahren. Songs wie „Help!“ 1965 von den Beatles, wo ein Mann eingesteht, dass es ihm psychisch den Boden unter den Füßen wegziehe und er Hilfe benötige, sind selten. Wenn Männer Leiden im Pop, dann suhlen sie sich oft am liebsten allein da durch. Hot Chip haben aber schon immer gern mit Männerkonventionen gebrochen: „You’re my number one guy“, sang Alexis Taylor voller Elan auf der Dancefloor-Hymne „Ready For The Floor“ (2010) – was sich leicht als queere Liebesbotschaft lesen ließ; obwohl die Zeile auch ein Batman-Zitat ist und eine Vertrauenserklärung an die Bandkollegen. Aber Hot Chip lieben offensichtlich diese bromantischen, also brüderlich romantischen Momente in ihren Texten. In Kreuzberg haben Alexis Taylor und Joe Goddard übrigens gerade erst bei der CSD-Party im Ritter Butzke aufgelegt.

Ausrasten mit „Eleanor Rigby“

Man kann im Titel der starken achten Platte von Hot Chip gleich zwei Verweise aufspüren, wenn man Spaß daran hat, dies- und jenseits des Schrägstriches: „Freakout“ dürfte eine Referenz auf Chics Disco-Funk-Klassiker „Le Freak“ sein: „Ah, freak out! / Le freak, c’est chic“. Und „Release“ heißt tatsächlich auch eine Platte der sound- und sujetverwandten Pet Shop Boys. „Freakout/Release“ also. Ausrasten bis zum Befreiungsschlag. Die ollen Griechen hätten es wohl Katharsis genannt. Auch wenn sie von Disco noch keinen blassen Schimmer hatten.

„Freakout/Release“ klingt funky-discoider als Hot Chip je waren, aber smart sind sie wie eh und je: Bei Hot Chip kommt sogar der Slow-Dancer „Hard To Be Funky“ Discofox-schlau rüber, in dem Alexis Taylor darüber grübelt dass es schon echt schwer sei, sexy auszuschauen, wenn man nicht den Funk hat – oder funky, wenn man keinen Sex hat. Ob „Eleanor“ (so der Name eines anderen Songs auf der Platte) nun endlich, anders als die „Eleanor Rigby“ der Beatles weiß, wo all die einsamen Menschen abtanzen? Vermutlich wird es ja im Psychopartykeller zu den Tracks von Hot Chip sein.

Hot Chip „Freakout/Release“ (Domino/Goodtogo)