Wird die Berliner Philharmonie das neue Berghain beim Electro-Festival Strom?
Techno-Stars wie Juan Atkins und Marcel Dettmann kommen. Und auch der Sounddesigner Simon Stockhausen. Wir haben ihn bei seiner Generalprobe begleitet.

Der Mann wippt wie ein Raver: Simon Stockhausen, schwarze Klamotten samt schwarzer Strickmütze, nickt hypnotisiert auf den Computerpuls, der durch den Kammermusiksaal tackert. Ein unheimliches Heulen bäumt sich auf. Es klingt wie ein zwielichtiger Wald, in dessen Nebel wilde Kreaturen lauern. Grün-gelbe Lichter flackern an Stockhausens Gerätschaften: Rechner, verkabelt mit einer Synthesizer-Klaviatur, die Stockhausen betastet. Ihm gegenüber auf dem Podium: Martin Heinze, der Mann für die ganz tiefen Töne. Erwartungsvoll blickt er zu Stockhausen hinüber, während er seinen menschhohen Kontrabass streicht; sich mit ihm wiegend wie im Tanz. Die Frequenzen fahren einem durch die Füße.
Daneben: Der Schlagzeuger Raphael Haeger, der mit seinen Schlägeln Sphärenklänge beschwört, während er hin und her wandelt zwischen seinem großen Aufbau aus Marimba, Vibrafon, Thai-Gongs, Boobam und auch japanischen Taiko-Trommeln. Zur anderen Seite des Basses: Martin Stegner an der Bratsche. Er zupft die Saiten, kratzt darauf – bis er die Bratsche wendet und das Holz der Rückseite mit seiner Hand betrommelt. Derweil meint man, wie auf wundersame Weise würde jemand weiterhin die Bratsche mit dem Bogen bedienen: Es ist Stockhausen am Synthesizer. Er hat sich den original Bratschen-Sound von Stegner per Mikrofon in seinen Rechner gekrallt, um ihn dann wie ein Hexenmeister zu manipulieren: Mal spielt er einen zehntönigen Akkord darauf, dann rückwärts, und dann zerhackt er die Bratsche in Tausende Partikelchen, bis schließlich der Computerpuls zum Schweigen kommt.
Es ist Montagnachmittag. Kurz nach 16 Uhr. Fünf Stunden lang sind die vier Männer miteinander nun schon ausgerastet auf ihrem Instrumentarium. Transformed Acoustix nennt sich das brandneue Ensemble. Es ist die erste und zugleich auch letzte Probe vor dem Auftritt beim Strom-Festival, bei dem sich die Philharmonie am 3. und 4. Februar ganz der elektronischen Musik verschreibt; wie schon 2020 bei der ersten Ausgabe des Festivals. Diesmal sind auch Detroit-Techno-Pionier Juan Atkins, Berghain-Resident Marcel Dettmann und Pianoforte-Präparator Hauschka mit am Start. Sicher auch der Versuch der Philharmonie, ein jüngeres Publikum anzulocken.
Simon Stockhausen ist kein Raver und kein Hexenmeister, sondern Komponist und Sounddesigner. Wem der Nachname bekannt vorkommt: Ja, sein Vater, Karlheinz Stockhausen (1928–2007), hat es als Electro-Pionier sogar auf das „Sgt. Pepper’s“ der Beatles gepackt – und nebenbei Bands wie Can und Kraftwerk inspiriert. Simon Stockhausen, 55, hat in jungen Jahren mit seinem Vater gemeinsame Sache gemacht, sich dann aber künstlerisch von ihm getrennt. Mittlerweile hat er sich mit seinem prominenten Namen arrangiert („es ist keine Bürde mehr, nur noch ein Name“) – und macht sein eigenes Ding. Etwas, das sein Vater gar nicht hätte tun können; allein schon, weil die Rechner seinerzeit nicht fix genug waren.
Was Stockhausen mit Transformed Acoustix veranstaltet, ist eine spezielle Art der Komprovisation: ein wilder Ritt zwischen Komposition und Improvisation. Ein bisschen was hat Stockhausen vor-komponiert, aber eigentlich entsteht das meiste live spontan im Moment. Das Besondere: wie Stockhausen elektronisch die akustischen Klänge der drei Herren verfremdet, die übrigens im „echten“ Leben klassisch-romantisch bei den Berliner Philharmonikern spielen, es sich bei Stockhausen aber verkneifen, Mozart oder Debussy auch nur ein paar Töne lang zu zitieren. Die organisch-elektronische Hybridform passt vortrefflich in unsere Zeit, in der auch wir Menschen uns zunehmend mit Elektronik verbinden.
Stockhausens Trickkiste bei dem Projekt: Granular- und Spektralsynthese. Erst seit wenigen Jahren sind Computerprozessoren so schnell, um all dies in Echtzeit mitzumachen. Bei der Granularsynthese wird ein hereinkommendes akustisches Signal auf dem Rechner in viele kleine Partikel aufgespalten, um es anschließend neu zusammenzusetzen – und zu verschieben. Bei der Spektralsynthese wird der Sound in seine spektralen Komponenten aufgelöst: Transienten, Geräuschanteil und tonaler Anteil. Oder, wie Stockhausen es knackig ausdrückt: „Ich kann dann durch den Bass singen, ein Fest!“ In jedem Fall elektronische Musik, state of the art, wie man sie nur selten im Radio hört.
Und nicht nur Stockhausen ist begeistert: Auch die drei Philharmoniker füttern ihn gern mit ihrer Klangknete – auf dass er sie dehne und in neue Formen bringe. „Improvisation ist eine gute Schule fürs Leben“, sagt Heinze, der Kontrabassist mit Faible für Wäscheklammern an seinen Saiten. „Das Wichtigste dabei ist nämlich: aufmerksam zuhören und auch einander Raum geben.“ Sie geben sich Zeichen, erspüren, erahnen. „Mit stark erhöhter Aufmerksamkeit. Es ist aufregend, gefährlich!“ Kein Wunder, dass die T-Shirts der Herren nach den fünf Stunden gut Schweiß aufgesogen haben. Und auch wenn ihnen Stockhausen seinen Klangteppich ausrollt, schweben die drei doch darüber wie Klangakrobaten: „Wir bewegen uns dann alle nicht mehr auf dem Boden, sondern in der Luft“, sagt Stegner. Ist sicher auch besser, wenn die wilden Kreaturen lauern im Wald, im Nebel. Der Computer pulst schon wieder, Stockhausen wippt mit und zieht die Strickmütze leicht tiefer ins Gesicht.
Strom. Festival für elektronische Musik Philharmonie, 3. + 4. Februar