Fuck, das Essen ist angebrannt! Gemma Ray und ihre neue elektrisierende Platte

Sie hat prominente Fans, von Wim Wenders bis Jimmy Page. Wir haben die britische Berlinerin Gemma Ray in ihrem Kiez am Kotti getroffen.

Gemma Ray im Simitdchi Café & Backhaus am Kotti
Gemma Ray im Simitdchi Café & Backhaus am KottiClara Renner für Berliner Zeitung am Wochenende

Gemma Ray wirkt sehr bei sich in ihrer Ecke hier im Simitdchi Café & Backhaus. Kreuzberg, Adalbertstraße 97. Nur wenige Meter entfernt draußen am Kotti steppt der Bär, aber hier drinnen in ihrem Lieblingscafé, das sie kurz „Simit“ nennt, ist Ray die Ruhe selbst. Sie beißt genüsslich in ihr türkisches Croissant und nippt an der Kaffeetasse. „Ist sie die Sängerin?“, zischt einer der Kaffeehauskellner (offenbar neu hier) einem anderen auf Englisch zu. „Single? Nein, nein, nein. Ach so, singer, ja!“

Genau, sie sei das, die berühmte Sängerin aus England. Ray scheint den Tuscheltalk der Kellner gar nicht mitzubekommen, als sie bei unserem Treffen erzählt, wie sie fast jeden Morgen um 7 Uhr früh hier aufschlägt. Weil sie ein Gewohnheitstier sei, wie sie sagt, aber nicht bloß deshalb. Sie schätze die liebevolle Atmosphäre hier. „Nicht so anmaßend wie London, wo ich herkomme.“

Wie zum Beweis, dass sie das ernst meint, es keine Floskel ist, kramt sie eine Anekdote raus: Einmal sei sie schwanger in der U-Bahn gestürzt, habe sich den Arm gebrochen. Ihr erster Anlaufpunkt: das Simit. Dort hat man ihr Erste Hilfe geleistet, bevor der Arzt kam. Gemma Ray, dem treuen Stammgast. Der guten Nachbarin, die seit Jahren im Kiez wohnt. Gemma Ray, der berühmten Sängerin aus England.

Ganz so berühmt, wie der Kellner meint, ist Gemma Ray mit ihrer Folk-Noir-Musik vielleicht doch noch nicht. Aber sie hat ausgesprochen prominente Fans: Jimmy Page von Led Zeppelin etwa tat nach einem Auftritt von Ray in der Londoner Royal Albert Hall begeistert kund, dass diese Frau eine Musikerin sei, die man auf keinen Fall verpassen solle. Und auch Wim Wenders schwört auf Gemma Ray. Gemeinsam mit ihr (die zwar Singer-Songwriterin, aber auch eine versierte Filmkomponistin ist) hat der Regisseur für ein großes Re-Release-Projekt einen Teil seiner frühen Soundtracks neu vertont, für Klassiker wie „Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter“ und für „Paris, Texas“. Teilweise war das körnige Filmmaterial samt Tonspur morsch geworden. Doch Ray hat alles gerichtet. Sie trat dann auch bei seiner Berlinale-Party auf, in Clärchens Ballhaus.

Von der geschätzten Kunstkritikerin und Kollegin Ingeborg Ruthe kürzlich bei seiner „Hopper“-Vernissage auf Ray angesprochen, sagte Wim Wenders strahlend: Ja, Gemma Ray, die sei eine Nomadin, wie er selbst – und eine wunderbare Songwriterin. Dieser dunklen Stimmung, dieser Melancholie in ihrer Musik, der fühle er sich sehr verbunden. Und so geht es vielen. Gemma Ray hat schon mit Kristof Hahn (von Swans) klanggetüftelt. Mit Alan Vega. Und mit Leuten aus der Band von Nick Cave, den Bad Seeds.

Wer die bisherigen acht Platten von Ray kennt und liebt, ist allerdings nur bedingt vorbereitet auf ihr neuestes Album „Gemma Ray & The Death Ball Gang“. Und auch das ist eine Berliner Geschichte, die mit Nachbarschaftshilfe zu tun hat. Wie im Simit, wie mit Wenders. Ray, die ihr geliebtes Studio in der Alten Münze aufgeben musste, da eine Galerie dort Stauraum brauchte, hatte sich im Candy Bomber eingemietet. Das ist ein Studio im ehemaligen Flughafen Tempelhof mit Weltklasse-Equipment, das im Namen auf die inzwischen legendären Rosinenbomber der Luftbrücke anspielt. Ray hatte sich jedenfalls in diesem Studio verschanzt, bis sie einen Studionachbarn kennenlernte: den Sounddesigner Ralf Goldkind. Die meisten kennen ihn wahrscheinlich neben Luci van Org als eine Hälfte des Duos Lucilectric, das mit „Mädchen“ 1994 einen großen Hit in Deutschland landeten. 

Gemma Ray und Ralf Goldkind tranken erstmal grünen Tee zusammen und naschten Kuchen. Wie man das in Berlin selten genug macht, wo ja viele in ihrer jeweiligen Ego-Blase bleiben. Auch Ray, von Haus aus eher introvertiert. Aber: Der Funke sprang über. Nachdem man während der gemeinsamen Tee-Zeremonien über allerlei Tiefsinniges gesprochen hatte, schrieb Ralf Goldkind mit schwarzer Farbe auf seine Studiowand: „No happy shit“. Was dann auch das Arbeitsmotto für die Platte wurde. „Es sind harte Zeiten, warum sollte man sich in die Tasche lügen?“ Kein glücklicher Scheiß. Das kann ja heiter werden! Und doch wurde es der Beginn einer wunderbaren Arbeitsfreundschaft. Rumgealbert habe man dann doch, gibt Gemma Ray schmunzelnd zu. Immer wieder haben sie sich Sound-Ideen hin- und hergeschickt. „Tausende E-Mails, ziemlich absurd, manchmal schon lächerlich, extrem.“ Manchmal so faszinierend, dass ihr darüber beim Kochen das Essen anbrannte.

Zu Ideen von Goldkind gesellten sich dann Rays Sound-Entwürfe. Eine „Lawine aus 60 Songs“, wie sie sagt. „Viele Samples hab ich auf meinem antiken MacBook gesammelt“, sagt sie, „aufgenommen mit der Mikrowelle. Ach, was sage ich Mikrowelle, mit dem Mikrofon natürlich!“ Immer wieder strahlt Ray diese charmante Zerstreutheit aus. Haben sie 2017 oder 2018 mit der Platte begonnen? Ach, sie weiß es nicht mehr. Eigentlich erst Jahrgang 1980, gesteht sie frei heraus, dass ihre Erinnerungen ihr manchmal Streiche spielen, so als wäre sie schon 80. „Wenn ich erst mal wirklich 80 bin“, sagt sie mit einem Lachen, „wird das ganz schrecklich!“

Doch falls sich Gemma Ray richtig erinnert, lief es so: Sie preschte mit Gitarren voran. Dann flankierte Goldkind sie mit Bässen, was sie wiederum zum Synthesizer-Spiel anstachelte. „Dann haben wir alles miteinander verkabelt.“ Die ganze Lawine. „Billige Handy-Memos mit luxuriösen Highend-Aufnahmen. Scheiße und Gold. Und so fühlt sich für mich die Platte auch an: mal hässlich, mal wunderschön.“ Oft sei sie ja ein Control-Freak. „Diesmal konnte ich loslassen.“ Dank der nachbarschaftlichen Hilfe. Die man aber auch erstmal annehmen muss. Herausgekommen ist eine Platte mit Songs, auf denen Ray, lyrisch durch Traumakaskaden streifend, so elektronisch klingt wie nie zuvor. Was wohl Wim Wenders, Led Zeppelin und die Bad Seeds dazu sagen?

Darüber kann sich die Musikerin später einen Kopf machen. Oder einfach gar nicht, denn vermutlich werden auch sie wieder ganz bezaubert sein ob dieser melancholischen Stimmung, bei der sich trotz neuen technoiden Klangs abermals der Gemma-Ray-Effekt einstellt. Jetzt erstmal muss Ray, die gute Nachbarin, in die Naunynstraße, um dagegen zu demonstrieren, dass dort eine Kita verdrängt wird. Denn wie London, wo sie vorher wohnte, will sie Berlin nicht haben: „Mir gefällt, wie wohl vielen, diese flüchtige Magie hier in Berlin. London ist anmaßend. Du steigst in die U-Bahn, und London knallt dir ins Gesicht.“ Manche würden das sicher auch vom Kotti behaupten. Aber Ray hat ja ihre ruhige Ecke hier im Simit. Und dann entscheidet sie selbst, wie laut oder wie leise sie es gerade will. Wird die nächste Platte wieder Folk? „Vielleicht auch Rock ’n’ Roll!“, sagt Gemma Ray. Sie lacht und meint es wohl doch ernst und muss dann aber wirklich los.

Gemma Ray: Gemma Ray & The Death Bell Gang Bronzerat/PIAS/Rough Trade)