Zwischen Wedding, Neukölln und Berliner Dancefloor: Die „Raven“-Platte von Kelela

Die gefeierte New Yorker R&B-Musikerin Kelela hat ihr neues Album „Raven“ maßgeblich in Berlin produziert, im Studio von Peaches. Wie kam es denn dazu?

Zwischen butterzart und superknallhart: Kelela.
Zwischen butterzart und superknallhart: Kelela.Justin French

Man muss schon aufpassen, wenn man einen Dancefloor in Berlin besteigt. Am Ende trifft man den oder die Ex, bleibt zwölf Stunden im Tanz-Tohuwabohu und alles ist so magisch und elektrisierend, dass man einen Song darüber schreiben muss, und eine Woche später sind ein Dutzend Tracks fürs neue Album fertig. So zumindest ging es Kelela, als sie Anfang 2020, nur drei Wochen bevor die Berliner Clubs ihre Corona-Schotten dichtmachten auf der Mala-Junta-Party, einem queeren Underground-Rave, in Berlin abtanzte.

„Ich hatte eine der unvergesslichsten Party-Nächte meines Lebens“, schwärmt sie, als wir sie anrufen, abermals euphorisiert. „Episch, eine typische Berlin-Nacht! Aber für jemanden, der das so nicht jedes Wochenende hat: mega special.“ Von dieser Berliner Partynacht erzählt nun der erotisch-sehnsüchtig aufgeladene Song „Happy Ending“ auf Kelelas neuer, zweiter Langspielplatte „Raven“. 13 von 15 Tracks des Albums sind in Berlin entstanden.

Man muss dazu wissen, dass Kelela, die hauptsächlich in New York lebt, mit ihrem wunderbar markant stürzenden Sopran auf Tanzböden keine Unbekannte ist: Sie hat sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht, indem sie R&B- und Electro-Sounds konsequent zusammendenkt und -fühlt. Wenn man sich R&B gemeinhin oft als schmusiges Kuschelbett vorstellt, so ist die Musik von Kelela eher ein Wasserbett mit stacheligen Massage-Noppen und mit Hardcore-Vibrationsfunktion.

Dieser clubbige, wenn auch aufgrund seiner raffiniert verschraubten Breakbeats längst nicht immer einfach tanzbare R&B-Sound hat Kelela prominente Fans verschafft: die Avantgarde-Pop-Göttin Björk etwa und deren Produzentin Arca. Oder auch das Londoner Trio The xx, mit denen Kelela schon auf Tour war – und deren Sängerin Romy auch an Kelelas hochgelobter Debütplatte „Take Me Apart“ von 2017 mitschrieb. Und Solange Knowles, die Schwester von Beyoncé, die zwei Kelela-Tracks mit auf eine von ihr kuratierte Compilation packte.

Kelela ist einer der großen aufstrebenden Stars im Electro-Futurismus-R&B. Umso cooler, dass die Platte „Raven“ maßgeblich in Berlin entstanden ist. Kelela kam auch deshalb hierher, weil sie mit dem Produzenten LSDXOXO zusammen an Sounds tüfteln wollte. Auch der ist gerade einer der jungen gehypten Acts, die mit R&B-Electro-Hybrid-Sounds viele begeistern; wie unlängst gleich zweimal live zu erleben war, im Astra Kulturhaus auf dem RAW-Gelände, als er Support für Shygirl spielte – und dann noch beim CTM Festival, wo LSDXOXO im Berghain bravourös performte.

Es verwundert nicht, dass Kelela in ihm einen Sound-Geistesverwandten sieht. Mit LSDXOXO stieg sie also eine Woche lang in Wedding ab, im Studio von der kanadischen Electro-Punkerin Peaches. Und dann kurvte Kelela noch ans andere Ende der Stadt, nach Neukölln, für die beeindruckenden Synthesizer-Klangkaskaden auf der Platte. Die hat sie dort mit dem Ambient-Duo namens OCA (bestehend aus Yo Van Lenz und Florian T. M. Zeisig) in deren Studio erarbeitet. „Raven“ ist also durch und durch Berlin, von Wedding bis Neukölln.

Sozial extrovertiert „wie ein Schmetterling“, sagt sie selbst: Kelela.
Sozial extrovertiert „wie ein Schmetterling“, sagt sie selbst: Kelela.Clifford Prince King

Es ist naheliegend, zu behaupten, Kelela würde R&B-Sounds mit Electro fusionieren. Um das Klangwerk von Kelela zu verstehen, sollte man es allerdings so sehen: Für sie war im Soul immer schon viel Elektronik zu finden, wenn man vorurteilsfrei hinhörte – auch bei Teddy Riley, Prince und Stevie Wonder. Oder eben bei Janet Jackson, einem der großen Idole von Kelela. Als sie an „Raven“ gearbeitet hat, lief auch Janet Jacksons „The Velvet Rope“ von 1997 rauf und runter. „Janets Platte ist schon sehr next-level“, sagt Kelela. „Ich fühle mich ihr innig verbunden.“

Kelelas stimmliche Einflüsse sind indes noch viel vielfältiger: Das reicht vom Kirchengesang der äthiopischen Gemeinde, die sie als Kind mit ihrer Mutter besucht hat, im US-Bundesstaat Maryland, über Jazzstandards, mit denen sie später in Cafés auftrat, bis hin zu Progressive-Metal-Gesang – da sie viel mit der Band Animals As Leaders ihres (inzwischen) Ex-Boyfriends Tosin Abasi rumhing und dann halt auch probiert, wie ihre Vocals auch auf harten Gitarren noch bestehen können. Raus aus den Komfortzonen! So hat Kelela ihre Wahnsinnsstimme gefunden. „R&B hat eben eine große Spannbreite“, sagt sie, „von butterzart bis knallhart. Und crazy Dekonstruiertes. R&B ist eine ausgeklügelte Musik.“

Das Leitmotiv der „Raven“-Platte ist das Wasser. Nicht unbedingt das Lieblingselement der titelgebenden Raben, bei denen man schon auch an Edgar Allan Poes gruseliges Gedicht „The Raven“ denken darf. Nicht erst in Kelelas Texten; schon auf Kelelas Plattencover ist das Wasser sehr präsent. Da ragt nicht mal ihr ganzer Kopf, sondern nur das Gesicht aus dem Wasser heraus. Es bleibt erst mal offen, wie gefährlich oder entspannt die Lage wohl ist. Es wirkt etwas bedrohlich, aber ihr Gesicht strahlt Ruhe aus.

„Wasser kann dich halten und bewegen“, sagt Kelela, „aber auch nach unten ziehen. Wasser kann dich reinigen und erneuern. Aber im schlimmsten Fall auch ertränken.“ Kelela wird nicht von Panik gepackt auf der Platte. Aber man ahnt, dass sie etwas durchgemacht hat. Um Katharsis zu finden, musste sie erst mal tief in ihren Kopf steigen – und dann auf einen Dancefloor in Berlin. Oder war es umgekehrt? „Sozial bin ich extrovertiert wie ein Schmetterling“, sagt Kelela. „Aber für jemanden, der extrovertiert ist, bin ich ganz schön introvertiert.“ Wenn das nicht auch nach der Seele von Berlin klingt!

Kelela: „Raven“ (Warp)

Konzert: Huxleys Neue Welt, 11. April 2023