Hamburger Rockband Lord Of The Lost gewinnt den Vorentscheid zum ESC

Sie sollen's retten in Liverpool! Die Hamburger Band, die schon bei Iron Maiden im Vorprogramm spielte, vertritt Deutschland mit dem Song „Blood & Glitter“.

Gewonnen mit hartem Rock und trendiger Queerness: Lord of the Lost.
Gewonnen mit hartem Rock und trendiger Queerness: Lord of the Lost.Imago Images

Na, die Kritik scheint gewirkt zu haben! Der in der ARD für den Eurovision Song Contest (ESC) verantwortliche Sender, der NDR, wurde im vergangenen Jahr noch heftig gescholten für seine Titelauswahl: Radiotauglich sollten sie sein, allesamt, dadurch kaum unterscheidbar. Die Strafe folgte dann beim internationalen Wettbewerb: letzter Platz. Fast eine deutsche Tradition seit 2015, sechsmal Letzter oder Vorletzter.

Das sollte anders werden in diesem Jahr. Aus 600 Vorschlägen wurden acht Titel ausgewählt, querbeet durch die verschiedensten Genres, und einem Vorschlag, bestimmt vom TikTok-Publikum. Da waren Balladen dabei und mittelalterliche Klänge, K-Pop-Anleihen und ein bisschen Pop-Punk, Gothic Metal und schließlich ein Partyschlager aus der Ballermann-Bubble.

Genrefluid und Genderfluid

Sieger wurde schließlich die Hamburger Band Lord of the Lost mit dem Titel „Blood & Glitter“. „Blut und Glitzer“, so ihre Übersetzung, „aber im metaphorischen Sinn“. Musikalisch sind sie nur schwer zu fassen: Dark oder Gothic Metal, Industrial und Glam Rock, zwischendrin ganz melodisch und dann wieder vokale Reminiszenzen an Rammstein und lautstarkes Grölen wie auf dem Festivalacker von Wacken. Dazu die vier Musiker um den Sänger Chris Harms in blutroten Trikots, hauteng und sexy. Harms selbst weiß was sich gehört für den ESC und zelebriert sich in trendiger Queerness. Das Ganze ist, so ordnet die Truppe sich selbst ein, „genrefluid“.

Lord of the Lost gibt es seit 2009, die Band hat auf ihren Touren schon die halbe Welt bereist, zuletzt mit 18 Shows in 16 Ländern im Vorprogramm von Iron Maiden. Ihr jüngstes Album „Blood & Glitter“ landet Anfang Januar innerhalb von sechs Tagen nach Veröffentlichung sogar auf Platz eins der deutschen Charts. Harms selbst wirkt jenseits der Bühne auch als Produzent und hat schon erfolgreich mit Joachim Witt und Nino de Angelo zusammengearbeitet.

Jetzt also Dark-Gothic-Industrial-Glam-Pop-Rock für Deutschland beim ESC, der am 13. Mai in Liverpool über die Final-Bühne geht. Das deutsche Publikum hat sich mit hoher Punktzahl dafür entschieden, es lieferte 50 Prozent aus Votings während der Show per Anruf und SMS und einem Onlinevoting auf den Webseiten der ARD-Jugendradios und der Eurovisions-Seite des NDR. Die anderen 50 Prozent kamen von acht Jurys aus anderen ESC-Teilnehmerländern. Die Internationalen entschieden sich deutlich anders als das deutsche Publikum, sie wählten mit großem Vorsprung den Berliner Will Church auf Platz eins, ein Straßenmusiker mit Hund und Hut, der sich einen Titel geschrieben hat, der genauso klingt wie der ESC-Sieger von 2019 „Arcade“ des Niederländers Duncan Laurence.

Das ESC-Gras wachsen gehört

Ob es für Lord of the Lost, kurz LOTL, reicht, um in Liverpool endlich aus der Verliererzone rauszukommen? Sie sind nicht die ersten, die beim ESC mit lautem Rock antreten. Es begann mit Lordi, den finnischen Sieger von 2006, 2021 siegte Måneskin für Italien mit ähnlichem Musikstil. Auch in diesem Jahr gibt es eine direkte Hard-Rock-Konkurrenz, die australische Band Voyager mit dem deutschen Frontmann Daniel Estrin. Bei den internationalen Wettbüros, die schon viele Wochen vorher das ESC-Gras wachsen hören, liegt Deutschland bislang abgeschlagen auf Platz 21, auf Platz 1 rangiert seit langem Schweden, obwohl hier bislang weder Interpret noch Titel gefunden wurden. In Schweden aber ist Loreen, die Siegerin von 2012, noch im Vorauswahlrennen, und auf sie setzen jetzt schon viele bei den Wettbüros.

Beim deutschen Vorentscheid gab es gar keine Sympathien von den ausländischen Jurys für den größten Favoriten, dem Ballermann-Star Ikke Hüftgold. Auf TikTok gewann er die Eintrittskarte zum Vorentscheid, seine unzähligen Fans sorgten seitdem für Stimmung in allen sozialen Netzwerken. Der beleibte Sänger mit zotteliger Schwarzhaarperücke, der eigentlich Matthias Distel heißt, füllt seit Jahren die Bierpaläste entlang der Schinkenstraße, die Partymeile für deutsche Mallorca-Urlauber. Hier kann jeder seine Hits mitgrölen: „Dicke Titten, Kartoffelsalat“, „Unten kommt die Gurke rein“, „Leck die Tussy“, „Hackevoll durch die Nacht“ - was man halt so singt, wenn man sturzbesoffen ist.

Aber Distel ist auch Songwriter und Musikproduzent. In dieser Funktion war er 2022 mitverantwortlich für den erfolgreichsten Schlager des Jahres, den sexistischen Chauvi-Hit „Layla“. Im Vorfeld zum Vorentscheid polarisierte er das ESC-Publikum, die hartgesottenen Fans rollten nur empört die Augen, die Partygänger hatten endlich ihre Stimme für den ESC gefunden. Die Medien arbeiteten sich ab an ihm, der SPIEGEL widmete ihm zwei Seiten. Auf der deutschen Fan-Seite esc-kompakt ist die Freude abschließend einhellig: „Ikke bleibt uns erspart!“, „Der GAU wurde verhindert!“

Allzweckwaffe Barbara Schöneberger und der queere Erklärbär

Und wie war die Show? Die Programmverantwortlichen beim NDR trauen insgesamt dem deutschen Vorentscheid nicht mehr viel zu, nicht anders ist es zu erklären, dass der Beginn der Veranstaltung auf 22 Uhr 20 festgesetzt wurde, zeitlich also weit weg vom großen Publikum. Dafür blieb man ansonsten bei alten Gewohnheiten. Moderiert wurde wieder von der Allzweckwaffe Barbara Schöneberger, die bei den ESC-Anhängern vor allem durch ihre Ahnungslosigkeit bei den Fakten auffiel. Dafür ist sie Profi genug, alles mit einem Witzchen wegzubügeln, über das sie selbst am meisten lacht.

An ihrer Seite saß Florian Silbereisen, gerade von Bali zurück und eher lustlos und übermüdet als in Co-Moderationslaune. Ein weiterer Gast auf dem Sofa war Ricardo Simonetti, der inzwischen offensichtlich in keiner TV-Show fehlen darf. Dabei muss er nichts tun, außer mit Lidschatten, knalligem Outfit und smartem Lächeln die LGBTIQ-Community repräsentieren. Der „queere Erklärbär“ - so seine Eigenwerbung - tut niemandem weh und erfüllt für die Öffentlich-Rechtlichen ohne viel Aufhebens den zeitgeistigen Auftrag nach Diversität.

Deutliche Pluspunkte aber gab es in diesem Jahr für die Bühne, jeder Act glänzte in neuem Bühnenbild, fantasievoll ausgedacht und solide erarbeitet. Da stand einer hoch oben auf einem Felsen, eine Sängerin schlug sich tapfer durch viel Schilfgras, eine Band war umringt von diversen Puppen und bei den Siegern sprühte es Feuer und Glitter.

So viel Abwechslung im Bühnenbild gab es in den vergangenen Jahren nie. Bei der abschließenden Pressekonferenz der Sieger lobten die LOTL-Musiker den Abend, vor allem den kollegialen Zusammenhalt unter den Künstlerinnen und Künstlern. Und für ihren Auftritt in Liverpool wünschten sie sich noch mehr Glitter und „am liebsten roten Pyroregen“.