Die Rolling Stones in Berlin: „Das wirst du nie mehr vergessen“
Zum Abschluss ihrer „Sixty“-Tour spielten die Rolling Stones noch einmal in Berlin - vielleicht zum letzten Mal. Für unseren Autor war es eine Premiere.

Kurz fühle ich mich, als hätte ich mich in die Siebziger verirrt. Ich sitze vorne auf der Bank einer Rikscha, rausche durch das abendliche Berlin, die letzten Meter bis zur Waldbühne. Hinter mir tritt Uwe in die Pedale, der Fahrer. Er trägt einen Zopf und sehr kurze Jeans und erzählt mir mit sanfter Stimme von den Rolling Stones. Passenderweise krächzen die gerade aus seinem kleinen Taschenradio. „Du hast die Stones noch nie gesehen, man?“, fragt er. „Die sind einfach cool.“ Uwe wäre gerne beim Konzert heute abend dabei, aber die Tickets waren ihm „zu pricey“. Er gibt mir seine Visitenkarte, auf der spirituelle Symbole zu sehen sind. „Bin viel in Indien unterwegs“, sagt er zur Erklärung, dann verabschieden wir uns. „Viel Spaß“, sagt Uwe und zwinkert verschwörerisch: „Rock´n´Roll.“
Die Rolling Stones sind an diesem warmen Mittwochabend in Berlin und spielen in der Waldbühne. Wieder einmal. Ihr erstes Konzert hier gaben sie vor bald 60 Jahren, 1965 war das. Danach kamen sie 1982 und 2014 her. Sie haben die Geschichte dieser legendären Open-Air-Arena mitgeschrieben. Jetzt sind sie wieder da. Vielleicht zum letzten Mal.
Auf dem Weg zum Eingang überhole ich Männer in Lederkutten mit aufgenähten roten Zungen - das Wappen der Stones. Ich sehe verblichene Tour-Shirts, Bierbäuche, graues, nicht mehr ganz so langes Haar. Die in die Jahre gekommene Fangemeinde pilgert noch einmal zu ihren britischen Predigern. Schon seit einer Weil geht das Gerücht um, dass es ein Abschied ohne Wiedersehen werden könnte. Mick Jagger ist bald achtzig Jahre alt, irgendwann wird selbst er aufhören. Vielleicht schwingt deswegen an diesem Abend von Beginn an so etwas wie Wehmut durch die Luft. Die good old days leben noch einmal auf. Ganz anders als bei mir.
Ich habe die Rolling Stones noch nie live gesehen. Ich habe sie bisher noch nicht mal besonders viel gehört. Klar, ich kenne Klassiker wie „Sympathy For The Devil“, „Start Me Up“ oder „Paint It Black“. Aber mitsingen oder gar erkennen, ob Keith Richards sein Gitarren-Riff gerade besonders gut spielt, das kann ich nicht. Vielleicht liegt es an meinem Alter (29). Oder daran, dass in meinem Umfeld eher House, Soul und Jazz gehört wird, als die Stones. Wahrscheinlich liegt es an beidem. Ein Umstand jedenfalls, der mich fehl am Platz fühlen lässt, während ich jetzt zwischen all diesen eingefleischten Fans in die Waldbühne schlendere.
Mick Jagger scherzt mit dem Publikum in Berlin
Staub weht über 22.000 Menschen. Die Arena bebt, schon jetzt, um kurz nach sieben Uhr. Vorne spielt die Vorband Ghost Hounds einen rotzigen Blues. Vor dem Getränkestand steht ein Mann mit Mick-Jagger-Tattoo auf dem linken Arm. Ich spreche ihn an: Was bedeuten dir die Rolling Stones? Freek Terwijn antwortet: „Sie sind mein Leben“. Dieser Abend hier in der Waldbühne sei das 138. Stones-Konzert, das er besuche. In seiner Heimat in Holland hat Freek sogar ein eigenes Rolling-Stones-Museum. Er zeigt Bilder davon auf seinem Handy: eine signierte E-Gitarre von Keith Richards, unterschriebene Shirts, Anhänger, Uhren, das meiste mit roten Zungen. Als ich ihm erzähle, dass dies mein erstes Rolling Stones Konzert sei, strahlt Freek. „Das“, sagt er, „wirst du nie mehr vergessen.“
Und dann geht es los. Überpünktlich, um viertel vor acht, schreitet Mick Jagger in einem leuchtend grün-rotem Blouson auf die Bühne, gefolgt von Keith Richards und Ron Woods. „Was geht ab Berlin“ ruft Jagger auf Deutsch. Eine Video-Collage mit Bildern von Charlie Watts wird gezeigt, dem im vergangenen Jahr verstorbenen Drummer der Band. „Diese Show ist für Charlie, okay“, ruft Jagger. Dann fegt Rhythm and Blues den Leuten entgegen. Zwei Reihen vor mir zündet sich ein Ehepaar einen Joint an.

Das, was ich über die Rolling Stones weiß, habe ich von meinem Vater. 1982, also vor genau vierzig Jahren, war er hier an eben diesem Ort bei ihrem Konzert. Er war damals fast genau so alt, wie ich es heute bin. Das Konzert stand unter gewissen Vorzeichen. '65, als die Stones zum ersten Mal hier aufgetreten waren, hatten ein paar Rowdys die Waldbühne kurz und klein geschlagen. Danach trat hier für Jahre niemand mehr auf. 1982 sei es grandios gewesen, ein sehr friedliches Konzert, erzählt mir mein Vater. Am Ende aber mussten alle Gäste in kleinen Gruppen durch ein langes Spalier an Polizisten in Kampfmontur. Von diesen martialischen und paternalistischen Gesten ist heute nichts mehr zu spüren.
In der Waldbühne wird es gemütlich
Noch eine Sache hat mir mein Vater zu den Stones erzählt: "Früher haben wir uns mit dieser Musik von unseren Eltern abgegrenzt.“ Sein Vater, seine Mutter - meine inzwischen verstorbenen Großeltern - hätten zu ihm immer gesagt, das, was er da höre sei Krach - keine Musik. Sicher sind auch heute, an diesem Mittwochabend, viele dieser damals jungen Leute hier. Aber wie die Rolling Stones älter geworden sind, so sind es auch ihre Fans. Aus den einstigen Rebellen sind Biedermänner geworden. Ihre Zukunft liegt weitestgehend hinter ihnen. Für zwei Stunden schwenken sie noch einmal ihre Arme wie früher, während die Stones ein Lied aus dem Jahr 1966 anstimmen, das sie vor dieser Tour niemals öffentlich gespielt haben und das Kennern vielleicht aus Tarantinos Film Once Upon A Time in Hollywood bekannt ist. Der Titel passt fast zu gut zur Stimmung: „Out of time“.
In der Waldbühne ist es inzwischen irgendwie gemütlich geworden. Es ist dunkel, Scheinwerfer rauschen durch die Menschenmassen, Rock-Riffs schwappen durch die Nacht. Die Stones spielen einen Klassiker nach dem nächsten. Eine intime Stimmung hat sich breit gemacht, zwischen einer Band und einem Publikum, die sich lange kennen.
Man kann nicht anders, als sich in Mick Jagger zu verlieben
Es ist viel geschrieben worden darüber, wie gut sich Mick Jagger in seinem Alter noch bewegt. Und dennoch ist es so augenfällig, dass man es kaum unkommentiert lassen kann. Wie dieser Mann zu jedem Lied aufs Neue tanzt, die Hüften schwenkt, seinen ganzen Körper beben lässt, mit dieser androgynen, burlesken Grazie - man kann nicht anders, als sich ein bisschen in ihn zu verlieben. Er scherzt mit dem Publikum über 9-Euro-Ticket, BER, Berliner Luft und Currywurst. Er singt aus vollem Halse. „Was für ein schöner Abend“, ruft er erneut auf Deutsch ins Mikrofon, „was für ein Sommernachtstraum!“
Und dann sind nach über zwei Stunden plötzlich die Lichter aus. Die Waldbühne liegt in der Dunkelheit. Der Schluss naht. Dabei fühle ich mich gerade erst so richtig angekommen bei den Stones. Einer ihrer großen Songs wurde bislang noch nicht gespielt. Die Leute pfeifen, kreischen, klatschen, es ist magisch. Dann ertönt das vielleicht bekannteste Intro der Musikgeschichte, und das erkenne sogar ich. Keith greift in seine Gitarre: Dä-däm, dädädäm... Mick hebt das Mikro: „I can`t get no ...“ Und zusammen mit 22.000 mir fremden Menschen brülle ich: „Satisfaction!“