Wo Kraftklub herkommen, die Anti-alles-was-scheiße-ist-plus-Berlin-Band
Im Atomino haben Kraftklub ihre ersten Konzerte gespielt – und die Böden gefegt. Über eine Stadt, eine Band und einen Club, die sich jeweils neu erfinden.

„Der wütende Mob schwenkte Deutschlandfahnen, zeigte Hitlergrüße und bahnte sich seinen Weg durch die Straßen, jagte dunkelhäutige Passanten, während die Polizei, die zahlenmäßig weit unterlegen war, zu viel Angst hatte einzugreifen.“ (New York Times, 31. August 2018)
„Zehntausende Menschen sind zu einem antirassistischen Konzert nach Chemnitz gekommen, das darauf abzielt, die jüngsten rechtsextremen Proteste und die Gewalt in der ostdeutschen Stadt zu übertönen.“ (The Guardian, 3. September 2018)
„Die Jury empfiehlt der Kultusministerkonferenz, die Stadt Chemnitz zur Kulturhauptstadt Europas 2025 in Deutschland zu ernennen.“ (Bericht der Expertenjury, Oktober 2020)
Chemnitz - Man wird ja wohl noch Dinge behaupten dürfen. Zum Beispiel, dass Chemnitz besser ist als das schlechte Image, das an der Stadt klebt wie ein plattgetretener Kaugummi auf Asphalt. Aus Gründen, die vier Jahre zurückliegen und die man hier als offene Wunde empfindet oder euphemistisch „die Ereignisse“ nennt. Und besser ist Chemnitz allein schon deshalb, weil diese Stadt Blond und Kraftklub hervorgebracht hat, zwei Bands, so viele Songs, die berühren und umhauen und live gespielt immer Laune machen – und man muss erst mal gar nicht wissen, warum. Sachsen sucks? Nicht hier, so nicht.
Zweite Behauptung: Dass das Chemnitzer Atomino der einzige Club ist auf dieser Welt, wo man im Sommer aus den Fenstern und dann unmittelbar auf pralle Brombeeren schauen kann. Die allerdings niemand jemals pflücken wird, weil die Sträucher unzugänglich auf einem Bahndamm emporstacheln.
Und jetzt fragen wir mal Jan Kummer, was er davon hält, dass man einfach so Dinge über seine Stadt und seinen Club behauptet, über seine vier Kinder, die Gesichter von Blond und Kraftklub, deren Karrieren im Atomino begannen.

Jan Kummer, 57 Jahre alt, groß, staksig, Hornbrille und immer Ingwerbonbons in der Tasche, ist eine wichtige Stimme der Chemnitzer Zivilgesellschaft; und stolzer Vater von Lotta und Nina (Blond) und Felix und Till (Kraftklub). Früher war er Teil der DDR-Band AG Geige, die sich als „dadaistische Kabarett-Performance-Truppe“ bezeichnete. Heute arbeitet er als Künstler mit einer Vorliebe für Hinterglasmalerei, eine Technik, bei der immer die oberste Farbschicht zuerst und unterteste zuletzt aufgetragen wird. Man könnte sagen, Kummer ist Andersdenker von Beruf. Er sagt lieber: „Ist alles Übungssache.“
Am rechten Handgelenk trägt Kummer ein Tattoo, so etwas wie einen Einlassstempel, nur eben lebenslang. Man sieht einen Punkt, zwei Ellipsen, die stilisierte Darstellung eines Atomkerns – und seit der ersten (1999) von bald sechs (2023) Cluberöffnungen das Logo des Atomino. Westler aufgepasst: Wer nicht die zweite Silbe in A-to-mi-no betont, kennt die DDR-Kinderzeitschrift FRÖSI (Fröhlich sein und singen) nicht, hat noch nie von den Abenteuern des clubnamengebenden Roboters Atomino gehört, kann also nicht aus dem Osten kommen.
Als wäre Chemnitz schon das neue Leipzig, das ja das neue Berlin sein soll
Seit März 2020 konnten sie diesen Sprachtest nicht mehr machen, denn so lange hat das Atomino bereits geschlossen. Über die letzte Party heißt es auf dem „drittbesten sächsischen Blog in der Kategorie Sonstiges“, stadtbekannt als re:marx: „Dort konnte man sich ein letztes Mal vor der Pandemie verstecken, die gerade anrollte, leise und fies von hinten. Es war wie in einem Indie-Katastrophenfilm, bei dem die Protagonisten trotz des unaufhaltsam heranrasenden Asteroiden noch mal ordentlich im Bunker feierten. Eine Woche später war alles dicht.“

Noch bevor der Asteroid am Himmel aufgetaucht war, reiften die nächsten Umzugspläne. Raus aus einem Kulturkaufhauskellerbunker, wo die Decken so tief hingen, dass man sich Sorgen machen musste um zu wild springende Bühnenkünstler; die sich auch noch den Weg durch ihr Publikum bahnen mussten, um zur Toilette zu gelangen. Und rein in den Wirkbau, eine ehemalige Textilmaschinenfabrik, wo sich bereits Start-ups, Ateliers und eine Kaffeerösterei angesiedelt haben, als wäre Chemnitz schon das neue Leipzig, das ja bekanntlich das neue Berlin sein soll. Und wo dann am Ende einer von haushohen Backsteinmauern gesäumten Gasse, die Kummer an düstere Erzählungen von Charles Dickens erinnert, bald die Türen des neuen Atomino aufgehen, den Blick freigeben werden auf eine Kathedrale von Raum, mit sehr viel Sprungluft nach oben plus Brombeerpanorama. „Bei einem Umzug“, sagt Kummer, „wird man gewissermaßen gezwungen, inhaltlich in Bewegung zu bleiben.“
Anfang September war das Atomino plötzlich wieder da, fünf Tage lang, es war ein Vorgeschmack auf die Wiedereröffnung im kommenden Jahr und eine Gelegenheit, Geld einzusammeln, für eine neue Lüftungsanlage vor allem. Ein Lebenszeichen mit Lesung, Ausstellung, Bingo, Konzerten, dem bewährten Partyformat „Endlich Mittwoch“. Kummer sagt: „Im Atomino gab es immer ein kleines Extra.“ Unbekannte Nachwuchsbands, interaktive Spiele, Trashiges, Ernstzunehmendes, generationenübergreifend, keine feste Zielgruppe und eine Türpolitik, die (fast) niemanden ausschließt. „Wir lieben auch Veranstaltungen, wo nur zehn Leute kommen“, sagt Kummer, „das gehört zu unserem Selbstverständnis, dass man nicht nur die kommerziell erfolgreichsten Sachen macht.“
Im Atomino spielen Blond und Kraftklub ihre ersten Konzerte
Die kommerziell erfolgreichste Band der Stadt trat natürlich trotzdem auf, zum ersten Mal live in Chemnitz seit vier Jahren. Kraftklub spielten, klar, ohne Gage, weil Heimspiel, Familienangelegenheit und Ehrensache zugleich. 4000 Leute drängten sich auf einem von „ostdeutschen Polizisten“ bewachten Parkplatz, und dann sangen alle und nicht nur ironisch wie bei einem Konzert im Westen: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“. Das Geld für eine neue Lüftungsanlage im neuen Atomino müsste zusammengekommen sein.

Das Atomino ist der Club, in dem die Las-Vegas-Glamour-Band Blond und die Anti-alles-was-wirklich-scheiße-ist-plus-Berlin-Formation Kraftklub ihre ersten Konzerte spielten, wo sie als Kinder den Soundchecks lauschten, den Boden fegten, als Teenager tanzten und Schnäpse tranken und heute als Vereinsmitglieder bei den Umbauarbeiten helfen. Leitungen von der Wand flexen, Stahlträger entfernen, Durchbrüche schaffen; falls sie nicht gerade auf Tour sind. Auf der Parkplatzbühne sagte Felix Kummer über das Atomino: „Hier sind wir groß geworden.“ Wissendes Nicken im Publikum. Ein Club ist wie eine blinkende und pulsierende Maschine, die flüchtiges Glück und Erinnerungen mit Lebenszeitgarantie produziert.
Wer nach einer durchfeierten Nacht im Atomino nach Hause wollte, musste immer an einem von Jan Kummer gemaltem Oberbürgermeisterporträt vorbei. Das hat Tradition seit 1999, als der Club erstmals in einem Fabrikkeller eröffnete und dann aus unterschiedlichen Gründen weiterzog: 2006 in einen brutalistischen Bau, 2012 in eine Turnhalle, 2013 auf die Probebühne des Chemnitzer Puppentheaters, 2015 ein Kulturkaufhaus. Der Bartresen, die Sessel aus einem tschechischen Sporthotel, ein Eselskopf aus Pappe zogen immer mit.

Bald wird der Sozialdemokrat Sven Schulze an einer alten Fabrikwand im Wirkbau hängen. „Die Gäste werden bei dem Anblick ermahnt, sich jetzt geordnet auf den Heimweg zu begeben und keinen Unsinn zu machen“, sagt Kummer und grinst. Ist der frühere Finanzbürgermeister Schulze ein kulturaffiner Mensch? „Wir wollen ihn dazu erziehen. Wir geben uns Mühe, ihn etwas locker zu machen.“
Ein Club wie das Atomino ist in den vergangenen über zwanzig Jahren ein politischer Ort geworden, organisiert als Verein, mit einer magnetischen Wirkung auf Menschen, die Spaß mit Engagement verbinden, sich freiwillig das Clublogo stechen lassen. Sie waren Macher, lange bevor das Wort Jugendsprache wurde. Und die den Prozess der Chemnitzer Kulturhauptstadtwerdung aktiv begleitet haben. Kummer sagt: „Man kann sich in dieser Stadt schwer raushalten, man muss sich positionieren, und dann ist man plötzlich ein politischer Akteur, weil es nicht anders geht.“ Und: „Es hat eine Stadt gewonnen, die es nötig hat.“
Kummer war von Anfang an beteiligt an der Kulturhauptstadtbewerbung und im Sommer 2018, nach dem Tod von Daniel H., den gewalttätigen Ausschreitungen, den rechtsextremen Aufmärschen, selbst auf der Straße, um das Stadtimage zu korrigieren, das Kaugummi vom Asphalt zu kratzen. Chemnitz stand ja nicht nur für Nazis, sondern auch für die europaweit älteste Bevölkerung und eine Stadt, die so viel Crystal Meth konsumiert wie keine andere in Deutschland.
Der Chemnitzer Kulturszene gelang etwas, das eigentlich unmachbar war
Chemnitz hat nach einer kurzen Phase des Schocks und Selbstzweifels ein überarbeitete Bewerbungsmappe vorgelegt, das Bidbook II, das nichts beschönigte, alles benannte. Die Kernidee: Bürgerbeteiligung, Einbindung der Region. Die Kulturhauptstadtjury war überzeugt von der Offenheit, mit der Chemnitz die letzte Schicht seiner Stadtgeschichte zuerst auftrug, als wären sie alle Hintergrundmaler. Das Jahr 2018, im Schlechten wie im Guten – denn etwas Gutes gab es ja auch.

Den Leuten vom Atomino, der Band Kraftklub, der gesamten Chemnitzer Kulturszene gelang damals etwas, das in der Musikbranche bis heute als einzigartig gilt, eigentlich unmachbar: ein Konzert für 65.000 Menschen, auf der Bühne Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., Marteria, Casper, die Toten Hosen, und alles mit nur wenigen Tagen Vorlauf gewuppt; es fuhren sogar mehr Züge als sonst nach Chemnitz, in eine Stadt, in der im vergangenen Juni und zum ersten Mal nach 16 Jahren mal wieder ein IC hielt. ICE? Irgendwann, vielleicht.
Unter dem Motto „Wir sind mehr“ ging an diesem 3. September vor vier Jahren ein Zeichen von Chemnitz aus: gegen Rassismus, für Toleranz. Man war tatsächlich mehr. Man war nicht allein. Zumindest für einen Tag. Auf die Titelseite der New York Times schaffte es die Stadt diesmal nicht.
An diesem Freitag erscheint „Kargo“, natürlich mit K, das neue Album von Kraftklub, es ist das vierte, nach fünf Jahren Pause und Felix Kummers Zwischenkarriere als Solokünstler. Im Song „Vierter September“ blickt die Band noch einmal zurück auf das Konzert im Chemnitzer Stadtzentrum, auf die Menge, die Hoffnung, denn: „Vielleicht haben wir gemeinsam wirklich was erreicht.“ Doch: „Am 4. September fahren die Züge wieder regulär und nichts hat sich verändert, die Innenstadt ist wieder leer.“ Fast.

Jeden Montag laufen wieder Tausende Menschen durch Chemnitz, und sie haben kein Problem damit, dass immer die rechtsextreme „Identitäre Bewegung“ sie anführt. Der neuesten Sonntagsfrage zufolge würde die AfD fast jede dritte Stimme in Sachsen bekommen.
Der erfahrene Antidemogänger Jan Kummer sagt: „Hier in der Gegend kann es passieren, dass man als Demokrat in der Minderheit ist. Man ist dann erschrocken, aber es sorgt für Klarheit, es ist kein verstecktes Potenzial.“ Und wenn sich in all den Jahren einer von denen ins Atomino verirrte, „dann wurde er freundlich darauf hingewiesen, dass es auch für ihn besser ist, den Club zu verlassen“. Sagt Jan Kummer und deutet auf den Parkplatz: „Guck mal, da kommen Kraftklub.“ Zwei von fünf Bandmitgliedern. Es gibt immer was zu tun für das neue Atomino.
Dritte Behauptung: Das C in Chemnitz steht für eine spezielle Spielart von cool.