Vom Mauerfall bis zu Klimaprotesten: Rapper Prinz Pi und sein neues „ADHS“-Album
Prinz Pi erzählt auf seinem Album „ADHS“ von einer Kindheit zwischen Pausenhofplatzhirschen und Karl-May-Büchern. Und er verbindet das gekonnt mit Politik.

Prinz Pi steht vor einer gigantischen, in Seekieferholz verkleideten Musikanlage, wie sie zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts in modernen amerikanischen Kinos zu finden war. Die Zuschauer seien damals von dem Sound völlig überwältigt gewesen, erzählt der Rapper und klingt, als wäre er selbst dabei gewesen. Dann kommt er auf die Vorzüge der Anlage zu sprechen, es geht um Frequenzbereiche, Sinuswellen und Lautsprecher-Membrane. Dem Autor dieses Artikels schwirrt bald etwas der Kopf, aber Pi – wie ihn hier alle nennen, als hätte der Künstlername den bürgerlichen schon längst ersetzt – fährt unbeirrt fort.

Pi sagt es nicht direkt, aber es wird deutlich, dass ihn der Gedanke entsetzt, sein neues Album „ADHS“ könnte auf minderwertigen Anlagen, am Ende sogar auf einfachen Billo-Kopfhörern so nebenbei beim Gang durch den Supermarkt gehört werden. Deshalb hat er zur „ADHS-World“ geladen, einem dreitätigen Event im beschaulichen Æden Club in Kreuzberg, zu dem neben Familie und Freunden auch ein paar Journalisten geladen sind, um seine neue Musik so zu hören, „wie sie auch wirklich gedacht ist“.
Diese fast kindliche Begeisterung für die kleinsten Details der Musikanlage, über die, so scheint es, Pi stundenlang fachsimpeln könnte, ließe sich leicht als Pose abtun. Welcher Künstler würde schon abstreiten, dass seine Musik ganz besonders hochwertig produziert sei und sich nur auf der richtigen Anlage in Gänze entfalten könne? Bei Pi ist man aber schon nach wenigen seiner Sätze davon überzeugt, dass einem hier ein Mann aus tiefster Leidenschaft seine Faszination für etwas erklären möchte, von der er nicht versteht, warum sie nicht ohnehin alle teilen. Und Prinz Pi hat viele starke Faszinationen: Musik, Kleidung, Kunst, Film – und Fotografie.
Als er die Kamera unseres Fotografen entdeckt, hat Prinz Pi ein neues Thema: Er besitzt nämlich das gleiche Modell auch zu Hause. Sofort beginnt ein Fachsimpeln über die besten Objektive. Aber wollten wir nicht eigentlich über das neue Album sprechen? Auf dem setzt der Rapper, der spätestens seit seinem Durchbruch mit dem 2013er Album „Kompass ohne Norden“ für sein Talent bekannt ist, die existenziellen Gefühle des Heranwachsens in melancholisch-euphorischen Songs zu beschreiben, nämlich einige spannende Akzente: Stärker als je zuvor widmet sich Prinz Pi auf „ADHS“ seiner eigenen Biografie.

Die beginnt in einem der vornehmsten Viertel der Stadt, in einer Beamtensiedlung am Schlachtensee, in der einst sogar Willy Brandt wohnte. Dennoch merkt Pi schnell, dass seine Eltern, nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene aus Ostpommern nach Berlin gekommen, mehr auf das Geld achten müssen als die Familien seiner Schulkameraden. Mietshaus statt Wohneigentum, Tiefkühlpizza statt Lieferdienst und No-Name-Brands anstelle von Markenklamotten: Prinz Pi lernt die feinen Unterschiede früh kennen. „Seit ich wusste, was Geld ist, wusste ich, wir haben kaum Geld gehabt“, heißt es dazu auf dem Introsong des Albums.
Dass seine Familie nur in diesem ganz speziellen Kosmos rund um den Schlachtensee zu den finanziell Schwächeren gehört und dass sie in vielen Gegenden das Durchschnittseinkommen eher anheben würde, weiß Prinz Pi heute. Als Kind merkte er nur, dass er immer wieder Sprüche von Schulkameraden einstecken musste, sich oft ausgeschlossen fühlte. Zuflucht fand Pi in der Literatur: „Lies die Bücher zu Hause und danach die Bücherei / Fliehe zu Isaac Asimov, Jules Verne und Karl May“, heißt es auf dem Album. Noch heute erinnert er sich lebendig an seine regelmäßigen Besuche der Zehlendorfer Gottfried-Benn-Bibliothek; daran, wie er sie, die Leihobergrenze ausreizend, mit vollgepacktem Rucksack wieder verließ. Die Bücher fesselten ihn: „Ich habe früh gemerkt, dass die Leiter raus aus meinem Kinderzimmer, in das Zimmer, in dem ich sein will, zu dem Leben, das ich leben will, aus Büchern besteht“.

Müsste man das neue Album, das vor literarischen Referenzen nur so strotzt, in dem Feld der Gegenwartsliteratur verorten, wäre es mit seiner melancholisch-rebellischen Erzählweise und seiner stellenweise aufflackernden Coming-of-Age-Rhetorik einerseits und dem gesellschaftsbeobachtenden, autobiografischen Stil andererseits wohl zwischen Benedict Wells („Hard Land“) und Annie Ernaux („Die Jahre“) einzuordnen. Prinz Pi, mit dem man vortrefflich über solche Themen reden kann, warnt jedoch davor, seine eigenen Erlebnisse und Meinungen zu verabsolutieren, wie er es bei Teilen der autobiografischen Gegenwartsliteratur beobachte. Sein Album soll zum Mitfühlen einladen und neue Perspektiven eröffnen, aber auch immer Raum für Ambivalenzen lassen: „Ich bin nicht der Held, nur der Erzähler“, heißt es in einem Song.
Auf dem Pausenhof fühlte sich Pi oft unwohl in seiner eigenen Haut: „Ich war ein schmächtiger, dünner Junge“, erzählt er. Sich Akzeptanz zu verschaffen, sich dem Platzhirschgehabe anzupassen, Schlägereien zu provozieren und sich so einen Ruf zu erarbeiten, das war nichts für ihn. Stattdessen suchte er nach andere Wegen, um sich abzugrenzen. Einen davon fand er in der Mode: „Klamotten waren eine der ersten Sachen, die mich mich in meinem Körper haben wohlfühlen lassen“. Eine Leidenschaft, die bis heute anhält. Mit der gleichen Begeisterung wie über die Musikanlage oder die Kameraobjektive spricht Prinz Pi auch über seine Modelinie „Keine Liebe“, in die er viel Herzblut steckt.
Ein anderer Weg zur eigenen Identität war für den Prinzen die HipHop-Kultur, in die er als Jugendlicher immer tiefer eintauchte. Zunächst vor allem in die Graffiti-Szene, in der er sich endlich respektiert fühlte: „Für mich war das ein Wertesystem, in dem ich mir Anerkennung verschaffen konnte, ohne dass ich dafür gut in der Schule sein oder reiche Eltern haben musste“, sagt Prinz Pi. Dabei lernte er erstmals auch Jugendliche außerhalb seines eigenen Bezirks und Milieus kennen. Statt nur angehende BWL- und Jurastudierende trifft er hier auch Gleichaltrige, die andere Wege verfolgen: „Von Weed zu Koks zu Speed zum Dealer“ fasst Prinz Pi auf dem Song „Puff Puff Pass“ einen solch alternativen Lebensweg zusammen. Später findet er über die HipHop-Szene seinen Weg zum Rap, dem er bis heute treu geblieben ist.
Auf „ADHS“ verbindet Prinz Pi gekonnt autobiographisches Erzählen mit gesellschaftlichen Beobachtungen. Politische Ereignisse (vom Mauerfall bis zu den Klimaprotesten) und kollektive Mentalitäten bilden den Kontext, in dem Prinz Pi von sich selbst erzählt, von seinen Erfahrungen in dieser Gesellschaft, die auch die unsere ist. Und daher ist „ADHS“ trotz bewusst eingeschränkter Gültigkeit auch ein Album von allgemeinem Interesse.

Heute hat Prinz Pi, der so gerne über seine eigene Jugend rappt, selbst drei Kinder. Wie sieht er die junge Generation? „Die Jugendlichen sind sich viel stärker ihres Konsums bewusst, das finde ich gut.“ Auch für die Klimaproteste hat er große Sympathien: „Das Thema ist sehr dringend.“ Mit seinen Kindern versucht er, über gesellschaftliche Fragen ins Gespräch zu kommen, gemeinsam Antworten zu finden. Einige lassen sich wohl auch auf „ADHS“ finden.
Prinz Pi: „ADHS“. Keine Liebe/Sony