„Simon Boccanegra“ an der Deutschen Oper: Faden verloren

Jetzt noch schwerer zu verstehen: Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ inszeniert von Vasily Barkhatov an der Deutschen Oper.

Szene aus „Simon Boccanegra“ an der Deutschen Oper
Szene aus „Simon Boccanegra“ an der Deutschen OperBettina Stoess

Wie macht man etwas Konfuses noch konfuser? Das scheint die leitende Frage hinter der neuen Produktion von „Simon Boccanegra“ an der Deutschen Oper Berlin zu sein. Das Haus befasst sich in wackerer Regelmäßigkeit mit dem dramaturgisch heiklen, musikalisch allerdings hochinteressanten Werk, seit der Eröffnung 1961 ist dies bereits die vierte Produktion. Vorgestellt wurde sie am Sonntag, besprochen wird hier die zweite Aufführung vom Mittwoch.

Giuseppe Verdi schrieb „Simon Boccanegra“ nach der mit „La Traviata“ abgeschlossenen Reihe seiner drei erfolgreichsten Opern 1857 für Venedig und hatte keinen großen Erfolg. Zum zweiten Mal bediente er sich eines Dramas von Antonio Gutierréz – aber während „Il Trovatore“ die komplett undurchsichtige Handlung mit schlagkräftigen Melodien überspielt, wird der Hörer vom genauso undurchsichtigen „Boccanegra“ nicht auf die gleiche Weise belohnt. Als Verdi das Stück später zu großen Teilen mit einem gründlich bearbeiteten Libretto neu vertonte, schuf er allerdings eine seiner subtilsten, bereits dem Spätwerk zuzuschlagenden Partituren – Claudio Abbado hat sie geliebt, in weitgehend ultimativer Interpretation aufgenommen und als Chefdirigent der Philharmoniker konzertant aufgeführt.

Worum es geht? Kaum zu sagen. Der Autor der Vorlage und Verdis erster Librettist Francesco Maria Piave und der spätere, hochreflektierte Bearbeiter Arrigo Boito haben keinen roten Faden durch das Drama um den Dogen von Genua zu legen gewusst. Mal geht es um Machtintrigen, mal um eine Frau, die von Simon als Tochter, vom Patrizier Fiesco als Enkelin, von Simons Konkurrent Adorno als Geliebte und seinem Mentor Paolo als zukünftige Gattin gedeutet wird und dadurch auch ein Machtfaktor ist.

Gleichzeitigkeit vom Verlust der Geliebten und Gewinn der Macht

Simon hat diese mal Amelia, mal Maria genannte junge Frau in unehelichem Verhältnis mit der Tochter Fiescos gezeugt, bevor er zum Dogen ernannt wurde. In dem Moment, in dem er erkennt, dass diese seine Geliebte gestorben ist, wird er zum Dogen ernannt. All das erzählt das Libretto mit gewichtiger Geste – aber was ist daran genau wichtig?

Der junge Regisseur Vasily Barkhatov weiß es auch nicht. Er und sein Bühnenbildner Zinovy Margolin reißen den Zusammenhang von Politik und Privatleben auseinander in Vorder- und Rückseite der Drehbühne und erledigen mit solchem Entweder-oder deren dialektischen Zusammenhang. Aus der traumatischen Gleichzeitigkeit vom Verlust der Geliebten und Gewinn der Macht versucht Barkhatov abzulesen, dass Simon gerne glauben würde, dass Amelia – die eben eigentlich Maria heißt und in einem Mädchenpensionat aufwächst, das von Andrea geleitet wird, der eigentlich Fiesco heißt, aber eben ihr Großvater ist, was aber beide nicht wissen – jetzt haben Sie den Faden vermutlich ebenso verloren wie ich … Einfach gesagt: Simon möchte laut Barkhatov glauben, dass diese junge Frau seine Tochter ist, sicher sei das keinesfalls. Das will der Regisseur verdeutlichen mittels über die Szene gelegtem Fernsehgrieseln, mit gelegentlich über den Fernseher laufenden Familienvideos und Zeitsprüngen, mit denen die Szene noch einmal von vorn beginnt, ohne Amelia.

Um diese amüsante Verkomplizierung der ohnehin komplizierten Handlung zumindest ein bisschen aufzuhellen, gibt es während der Umbaupausen im ersten Akt kleine Erklärungen, italienisch vorgetragen und in den Übertiteln übersetzt werden – sie sorgen für aggressive Unruhe im Publikum.

Soll man sich erlesen, was der Regisseur einem nicht szenisch erschließt?

In der Tat hat man den Eindruck, dass man sich erlesen soll, was der Regisseur einem szenisch nicht erschließen kann. Obwohl die Geschichte samt dem szenischen Vorspann, der wiederum dem Prolog vorangeht und mit der Ouvertüre der Erstfassung begleitet wird, 40 Jahre umfasst, ändert sich in Ausstattung und Kostümierung der Figuren nichts. Die Ernennung von Simons Nachfolger ist die genaue szenische Reprise seiner Ernennung. Die Handlung ist nicht nur unverständlich, sie hat auch kein Ergebnis. Das Hin und Her der Volksmeinung – erst heißt es „Viva la Duce“, dann „Morte al Duce“ – bleibt sich ewig gleich. Warum Barkhatov im Programmheft kundtut, dass Boccanegra „die Struktur seines Staates grundlegend verändert hat“, und es dann nicht inszeniert – das bekäme man gerne erklärt. Für den Zuschauer ist es gelinde gesagt frustrierend.

Der Beifall hat nach drei Stunden etwas seltsam Sediertes. Ein so stabiler und höhensicherer Tenor wie Attilio Glaser in der Rolle des Adorno wird eigentlich zuverlässig bejubelt, auch wenn er fast nur forte singt – hier geht der Beifall nur maßvoll in die Höhe. Maria Motolygina als Amelia hat den größten Erfolg trotz einer noch unausgeglichenen und starren Klangverteilung mit attackierender Höhe, satt gefärbter Mittellage und eher schwacher Tiefe. Michael Bachtadze in der wichtigen Rolle des Intriganten Paolo wird vom Publikum durchgewunken – er ist allerdings von Verdi auch nicht großzügig bedacht worden und wird vom Regisseur und seiner Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili als billig grau gekleideter Gewerkschafter eher versteckt als gezeigt. Ähnlich ergeht es Liang Li, der den Fiesco oder Andrea wirklich sehr schön und charakteristisch singt – auch er wird schwach profiliert über die Bühne geschickt, und man fragt sich am Ende: Wofür war der eigentlich noch mal zuständig?

Das wird sich bei der von George Petean gesungenen Titelfigur niemand fragen. Petean trägt die Partie souverän, wenn auch eher kraftvoll als nuanciert und mit einer Erscheinung, die sich von der Regie nicht kleiner machen lässt. Jader Bignamini dirigiert das Orchester der Deutschen Oper und den von Jeremy Bines zuverlässig einstudierten Chor des Hauses eher dezent und farbig – den Feinheiten der Partitur und ihren strukturellen Verstrebungen wird er damit größtenteils gerecht, ihre Ausdrucksbreite wirkt allerdings in den Extremen zuweilen reduziert.