Nach der Bücherjagd: Vom Nachttisch geräumt
Es folgen keine Rezensionen. Es handelt sich – sehr altertümlich gesagt – um Lesefrüchte. Die Bücher werden also nicht vorgestellt und analysiert, sondern ausgebeutet. Nach einer Jagd werden die erlegten Tiere neben einander auf den Boden gelegt. Man hat so noch einmal Gelegenheit, einen Blick auf alles zu werfen, bevor die Köche die Beute verwerten. Jeden Monat neu wird vom Nachttisch geräumt.
Die Ära der Zeitungen
Menschen verzweifeln, Menschen bringen sich um. Wenn sie sich umbringen, bringen sie sich nicht nur aus Verzweiflung um. Auch aus Gemeinheit. Sie sind nicht nur Opfer. Jonathan Franzen schrieb 2011 einen Essay über seinen Freund David Foster Wallace, der sich 2008 umbrachte.
Nein, keinen Essay. Sondern einen der klügsten Texte über die Langeweile, den Roman, den Hass und die Liebe. Ach, klug! Das ist doch kein Wort für diese 45 Seiten! Weise? Weise sind sie auch. Aber sie sind auch aufgeregt, wütend und spannend. Er schreibt von seinem Freund, indem er von einem Ausflug erzählt, von einer Reise zu jener Insel, die Defoe als Folie diente für seine Robinson-Crusoe-Geschichte. Jonathan Franzen fährt dorthin, hat ein Paar Bücher – darunter Robinson Crusoe – im Gebäck.
Er möchte ein wenig allein sein, in einem Zelt übernachten, lesen, fischen. Der amerikanische Traum vom Trapperleben. Bevor er vor die Küste Chiles aufbrach, hatte David Foster Wallaces Witwe ihm noch ein wenig von Davids Asche mitgegeben. Der Gedanke, dass ein Stück von ihm irgend wo weit weg untergekommen sei, wäre Wallace sicher recht gewesen. Die Asche kommt in ein hohles Holzbuch und das in Franzens Reisetasche. Die Insel ist kein Südsee-Idyll, sondern ein zerklüftetes, windumtostes Felsenstück im Atlantik. Franzen hat Angst um sein Leben.
Er findet den seltenen Vogel, den „Más-Afuera-Schlüpfer, nicht, der nur hier lebt, um dessentwillen der Vogelliebhaber Jonathan Franzen auf die Insel gekommen ist. Er liest Robinson Crusoe und wundert sich, dass dessen drei Fässchen Rum ein Vierteljahrhundert lang reichten. „Ich hätte alle drei in einem Monat getrunken, schon um damit fertig zu sein.“ Franzen erinnert sich daran, dass der moderne Roman aus der Langeweile entstand, die in die Freizeit entlassene Damen der Mittelschicht empfanden. Hier kam die Nachfrage auf, die befriedigt wurde von Menschen, die, um der bedrückenden Langeweile der durchschauten Sinnlosigkeit ihrer Existenz zu entfliehen, sich hinsetzten und aufschrieben, was ihnen durch den Kopf ging. Diese Nachfrage war eine nach der Wahrheit. Defoe wusste das und gab sein Buch als von Robinson Crusoe selbst geschrieben aus.
Nach und nach aber setzt sich die Auffassung durch, Erzählungen müssten, um wahr sein zu können, erfunden sein. Die Kunst des Romans besteht darin, die Personen, das Geschehen plausibel zu machen. Zum Beispiel durch Genauigkeit: „So etwas kann man sich nicht ausdenken.“
Franzen schreibt von all dem, von dem Verlangen danach, geliebt zu werden, und der Einsicht, dass es keinen Grund gibt dafür, von der Sucht, die damit einhergeht, von den Selbstmord-Gelüsten und dem Gedanken, ihn „als letzten großen Treffer“ zu inszenieren. Das alles eingebettet in die Erzählung von der Suche nach dem Más-Afuera-Schlüpfer – más afuera „Weiter weg“ heißt auch der Text. Das gibt den etwas erhitzt erscheinenden Überlegungen eine überzeugende Plausibilität.
Sie sind keine Argumente mehr, ausgeteilt im sterilisierten Raum des Labors der Vernunft, sondern Produkte einer Wirklichkeit, gegen die der Erzähler ankämpft. Auch mit diesen Gedanken, die seine Freiheit gegenüber der eigenen Lebenslage bezeugen. Ihre Kraft, ihre Dringlichkeit, das Gefühl ihrer überwältigenden Triftigkeit aber beziehen sie gerade aus der Situation, gegen die sie sich wenden. Der Erzähler ist high. Und mit ihm der Leser.
Legt man die Geschichte – es ist kein Essay – aus der Hand, fragt man sich, ob Franzen je auf der Insel Robinson Crusoe war, ob es sie vielleicht gar nicht gibt und er uns nur von ihr erzählt hat, weil er anders nicht von seinem lieben, bösen Freund David zu sagen wusste.
Das sind nur 45 Seiten in einer mehr als 350 Seiten umfassenden Sammlung von „Essays“ des Romanautoren Jonathan Franzen und gleich auf der ersten Seite des nächsten steht ein Satz, der mich, den Redakteur einer moribunden Tageszeitung, zwingt weiterzulesen: „.. sind wir nicht in den vergangenen ein, zwei Jahren alle quasi zu der heimlichen Übereinkunft gelangt, dass Romane in die Ära der Zeitungen gehören und auch den Weg aller Zeitungen gehen, nur schneller?“
Jonathan Franzen: Weiter weg – Essays, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Wieland Freund, Dirk van Gunsteren und Eike Schönfeld, Rowohlt-Verlag, Reinbek 2013, 365 Seiten, 19,95 Euro.
Karten lesen
Frank Jacobs wurde 1971 im flandrischen Bree geboren. Der Belgier ist begeisterter Kartenliebhaber. 2006 eröffnete er einen Blog im Internet „Strange Maps“, in dem er von seinen Fundstücken erzählte. Innerhalb eines Jahres hatte er fast eine Million Hits.
2011 engagierte ihn die New York Times. Dort erzählt er jetzt in seinem Blog „Borderlines“ von dem, was auf und um Grenzen passiert auf der Welt. Im Hauptberuf arbeitet er in der Londoner Botschaft Belgiens. Auf exterritorialem Gebiet? Das wird ihm sehr gefallen. „Seltsame Karten“ heißt sein jetzt auch auf deutsch erschienenes Buch. Darin sind auch zwei Karten von Neil Armstrongs Moonwalk am 21. Juli 1969. Sie differieren ein wenig. Futter für die Freunde freier Verschwörungsfantasien. Das F wird viel zu wenig beachtet!
Eine andere Karte zeigt Schottlands Kolonie Neukaledonien. Nie davon gehört? Kein Wunder. Im Oktober 1698 kamen 1200 schottische Kolonisten nach Lateinamerika und besetzten eine Bucht an einer Stelle, an der Jahrhunderte später der Panamakanal gegraben wurde. Mitte 1699 lebte von denen kaum noch einer. Im August kamen noch einmal 1300 Siedler. Im April 1700 war alles vorbei.
Von den sechzehn Schiffen, die insgesamt nach Darién abgesegelt waren, kam nur ein einziges zurück. Jeder zweite Schotte hatte in dieses Kolonialprojekt investiert. Alle waren pleite. Als England erklärte, es sei bereit, die Ausfälle zu ersetzen, wenn Schottland bereit sei, sich mit England zusammenzuschließen. 1707 akzeptierten das englische und das schottische Parlament den Act of Union. Das schottische Parlament wurde aufgelöst und das Vereinigte Königreich gegründet.
Ein unabhängiges schottisches Parlament trat erst wieder 1999, dreihundert Jahre nach dem Kolonialdesaster, zusammen. Auch Karten kann man erst dann lesen, wenn man weiß, was nicht auf ihnen geschrieben steht. Zumal es ja ein Neukaledonien gibt. 1774 nannte James Cook eine Inselgruppe im Pazifik so. Ein Diagramm aus dem 1860 zeigt in der Mitte eine Uhr in Washington. Es ist 12 auf ihr. Um sie herum 133 Uhren, die zeigen wie viel Uhr es dort ist, wenn es in Washington 12 schlägt.
Eine Weltzeituhr? Nein. Wer näher hinsieht, entdeckt, dass es in Baltimore, nur sechzig Kilometer entfernt von Washington schon 12.02 war. Jetzt dämmert dem Betrachter: Jeder Ort hatte seine eigene Zeit. Mittag war, wenn die Sonne am höchsten stand. Diesem Realismus machte die Eisenbahn den Garaus. Sie setzte an die Stelle der Wirklichkeit die Illusion des Plans, des Fahrplans. Am 11. Oktober 1883 einigten sich die Chefs der verschiedenen Eisenbahngesellschaft auf eine Standardzeit. Die Staaten folgten ihr nach und nach.
Die Bundesregierung in Washington freilich brauchte dafür fast ein halbes Jahrhundert. Solche Geschichten entnimmt Frank Jacobs den Karten und Diagrammen seiner Sammlung. Er stößt uns auf Parallelwelten oder aber auf die mörderische Wirklichkeit unserer eigenen. Der französische Ingenieur Minard stellte 1869 eine Kombination von Karte und Infografik her, der man die Verluste der Großen Armee auf dem Russlandfeldzug 1812-1813 entnehmen kann.
Man kann auf der Karte nicht nur den Weg ablesen, den sie nahm, sondern auch wo wie viele der Soldaten umkamen. Schon auf dem Hinweg und dann auf dem Rückweg. Mit 442.000 Männern marschierte Napoleon in Russland ein. Als sie – siegreich – in Moskau ankamen, waren sie nur noch 100.000, als sie Russland wieder verließen kaum mehr als 10.000. Man sollte sich öfter die Karten legen. Die richtigen.
Frank Jacobs: Seltsame Karten – Ein Atlas kartographischer Kuriositäten, übersetzt von Matthias Müller, Verlagsbuchhandlung liebeskind, München 2012, 128 Seiten, farbige Abbildungen, 29,80 Euro.
Vom Geschenk der Vernunft und der Freiheit, von ihr Gebrauch zu machen
Triumph der Philosophie. Die ersten Worte eines langen, vielzeiligen Titels, den ich nicht zu Ende las. Sonst hätte ich mir das Buch vielleicht nicht bestellt. Ein Triumph über wen? Über die Theologie dachte ich. Aber wer hätte 1573 so etwas schreiben, nun gar veröffentlichen können?
Ich geniere mich ein wenig, aber jetzt schreibe ich doch den umständlichen Titel hier hin, denn dann weiß man, worum es geht oder beginnt doch es zu ahnen: „Triumph der Philosophie, das ist Die Metaphysische Methode zu Philosophieren, durch die mittels der dem Geist durch göttliche Fügung eingegebenen Kenntnisse menschliche Vernunftgründe so abgeleitet werden, dass aufgrund der hierauf errichteten aller stärksten Beweise die Wahrheit der Sache offen zu Tage tritt, und die Philosophie, die lange unter der Autorität der Philosophen begraben war, als Siegerin hervorbricht.
Denn durch an die 600 Fragen wird das, worin die Philosophie der offenbarten Wahrheit zu widerstreiten schien, so wahrhaft in Übereinstimmung gebracht, dass man sagen muss, sie diene nicht nur dem Glauben, sondern sei gar dessen Fundament.“ Der Autor war Nicolaus Taurellus (1547 – 1606), geboren im burgundischen Montbéliard (Mömpelgard), das damals zu Württemberg gehörte. So studierte der Sohn eines Stadtschreibers erst einmal in Basel Medizin, dann in Tübingen Philosophie.
1580 wurde er Professor für Medizin und Physik an der Hochschule in Altdorf bei Nürnberg. Hätte ich den Titel wenigstens überflogen, wäre mir aufgefallen, dass der Triumph der Philosophie kein Triumph über die Theologie, sondern einer über die Philosophen war.
Seine Botschaft: Jeder Mensch hat von Gott Verstand bekommen und ihn nutzend philosophiert er. Philosophie ist kein Fach, in dem man Lehrsätze von Autoritäten übernimmt. Philosophie ist eine Tätigkeit: agierende Vernunft. Taurellus möchte in dieser Schrift zeigen, dass die göttliche Offenbarung zwar den Sätzen der Philosophen – allen voran Aristoteles – widersprechen mag, niemals aber wird sie der Vernunft widersprechen. Taurellus schreibt: „Die Würde der Philosophie besteht nicht darin, zu glauben, sondern wohl eher darin, zu erkennen.“
Ein großes Wort, von dem der heutige Leser gerne schnell große Schlüsse zieht. Aber wenige Zeilen später steht dann, vielleicht weil auch Taurellus gewisse Gedanken kamen: „Anders verhält es sich mit der himmlischen Philosophie. Da nämlich der Glaube uns in keiner Weise eingeboren ist (ich meine die Offenbarung des göttlichen Willens), und auch mit Vernunftgründen nicht erfasst werden kann, stützt er sich auf die Autorität.“
Der Versuch einer klaren, Leben, das Leben des Autors, rettenden Unterscheidung. Man weiß zu wenig über Taurellus, und ich nun schon gar nicht, um etwas darüber sagen zu können, wie gläubig oder aber wie schlau dieses Argument von ihm eingebracht wird.
Blicken wir noch einmal auf den Titel. Das Wort Theologie kommt überhaupt nicht vor. Es geht um Philosophie und Offenbarung. Beide zeigen die Wahrheit. So einfach ist es. Aber wie kompliziert ist es dann im Einzelnen. Die Form ist nicht unähnlich der der großen Erörterungen des Mittelalters. Sie ist uns heute wieder sehr geläufig geworden. Nicht in abgeschriebenen Diplom- und Doktorarbeiten – die Autoritäten! -, überhaupt nicht in akademischen Schriften.
Sondern die Unterhaltungsindustrie liebt diese FAQ, diese häufig gestellten Fragen wieder mindestens so sehr wie die Zeit des Taurellus. Also zum Beispiel die Frage nach der Ewigkeit der Welt. Eine berühmte Differenz zwischen Aristoteles, für den die Welt ewig war, und der biblischen Schöpfungsgeschichte. Für Taurellus liegt die Sache einfach. Aristoteles irrt. Aber er irrt. Das heißt er untersucht die Frage nicht vernünftig und kommt so zu einem falschen Ergebnis. Taurellus meint, was sich ändert, ist nicht ewig. Also ist die Welt auch nicht ewig. Er hat recht.
Die Welt ist nicht ewig. Aber noch rechter hat Aristoteles. Denn das Nichts, aus dem der biblische Schöpfergott die Welt geschaffen soll, gibt es nicht, hat es nie gegeben. Es ist eine großartig-listige Erfindung, der Albtraum einer vermessenen Fantasie.
Aber das sagt nicht Taurellus, das quatscht ihm ein heutiger Leser vorlaut dazwischen in der Gewissheit, das Taurellus ihm nicht mehr in die Parade fahren kann. Taurellus, geboren als Nikolaus Öchslin, starb nicht am Galgen, er wurde nicht verbrannt. Er starb im September 1606 durch die Pest.
Nicolaus Taurellus: Philosophia Triumphus, lateinisch – deutsch, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Henrik Wels, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, 596 Seiten, 248 Euro.
Masters of the Universe
Im Jahre 2010 wurde ein Buch aus dem Jahre 1910 noch einmal gedruckt. Es hieß „Die Welt in hundert Jahren“. Ein interessanter Blick auf unsere Gegenwart. Dinge, an die wir vor zwanzig Jahren nicht einmal dachten, hatte jemand schon im Jahre 1910 völlig richtig vorausgesagt.
Das Handy zum Beispiel. Oder den Luftkrieg. Vergangenes Jahr nun brachte derselbe Verlag, der den Reprint herausgebracht hatte, einen Band heraus, in dem 23 Autoren ihr Bild des Jahres 2112 malen. Also zum Beispiel Norbert Bolz über die Medien, Herfried Münkler über den Krieg, Adolf Holl über die Religionen. Es macht Spaß, die beiden Bände zu vergleichen. Während vor einhundert Jahren fast alle Autoren große Visionen malten, versuchen die Autoren von 2012 recht zu behalten.
Claus Leggewie zum Beispiel, der über „Politik in 100 Jahren“ schreibt, schmeißt erst ein paar radikale Vorstellungen in seinen Computer, um dann alles wieder hinunter zu dimmen. Also zuerst die Vorstellung, es gebe gar keine Politik mehr, sondern bürokratische Apparate würden regieren, von Experten unterstützt und von 147 Konzernen gesponsert. „Wieso 147? Das ist einer Studie der jeder Occupy-Sympathie unverdächtigen ETH Zürich zufolge, schon heute die Zahl der relevanten Konzerne, die als „masters of the universe“ die Geschicke der Welt beherrschen und als „die Märkte“ politische Führungen und Bürgergesellschaft am Nasenring führen“. Und dann aber die andere Idee: „Die größte Sensation wäre 2112, wenn wir einfach fünf bis sechs Politiker-Generationen weiter mit 25 Bundestags- und 350 Landtagswahlen weitergemacht hätten, Koalitionsrunden tagen und Regierungen per Misstrauensvotum scheitern ließen, ein paar Ministerialressorts (wie weiland die Post) abgeschafft und ein paar neue (wie weiland die Umwelt und jetzt das Internet) dazu erfunden hätten.“
Vor einhundert Jahren gab es so vorsichtiges Abtasten nicht. Da malte Ellen Key ihre Schreckensvision einer Welt, in der die Geschlechtsunterschiede nahezu verschwunden sein werden, an die Wand und der norwegische Autor Björn Björnson fixierte seinen Traum, dass 2012 der Krieg der Religionen beendet sein werde, weil keiner mehr verlangen wird: „fühle, denke, glaube so wie ich, denn eines wird ihren Glauben ja dennoch vereinen, wird diesen Glauben zu einem einzigen machen: Das Wunder! Und in jedes Glauben wird man dieses Wunder erkennen und es wird das große, mächtige unzerreißbare Band sein, das alle umschlingt. Das wird die Religion sein; die Religion der Zukunft.“
Nach so etwas kann man in dem neuen Band lange suchen. Da wird abgewogen, für möglich gehalten, wieder fallen gelassen. Keiner traut sich zu spinnen. Nicht einmal über die Zukunft! Nur Peter Weibel, der nächstes Jahr 70 werden wird, der Künstler und Kurator, der legt los, dass es eine Freude ist und entwirft uns eine völlig neue Welt mit einer ungeahnten neuen Kunst: „Die Aggregatzustände der Materie, nämlich flüssig, fest, gasförmig, werden variabel und vom Menschen steuerbar sein. Ein Stein wird sich bei entsprechender Berührung mit Hilfe neuer Molekularer Substanzen in eine Gaswolke verwandeln. Diese wiederum kann bei einer erneuten Berührung in eine Flüssigkeit verwandelt werden.
So wird sich die Welt um einen ständig verändern.“ Und was ist mit Zeitungen in hundert Jahren? In seinem Beitrag über die Medien verliert Norbert Bolz kein Wort über sie. Er sieht die Sache so: „An die Stelle der Rezeption tritt die Partizipation. Nicht nur der Autor, sondern auch der Leser verschwindet. Hinzu kommt, was die Plattformbetreiber ‚unbundeling of content‘ nennen. Zu Deutsch: Es gibt keine Werke mehr. Denn überall setzen sich die neuen Kulturtechniken durch, die der Kultur der Gutenberg-Galaxis den Garaus machen: cut & paste, link & tag, copy & remix.“
Arthur Bremer: Die Welt in 100 Jahren, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010, 319 Seiten, dazu 15 Seiten aktuelle Einleitung von Georg Ruppelt, zahlreiche s/w Abbildungen, 19,80 Euro. Als e-book 9,99 Euro.
2112 – Die Welt in 100 Jahren, hrsg. von Ernst A. Grandits, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2012, 302 Seiten, 30 farbige Abbildungen, 19,80 Euro.
Die Zeitung ist kurz vor tot. Bis sie jemand neu erfindet
Seit ein paar Jahrzehnten arbeiten A und B für Tageszeitungen. Es ist Montag, der 7. Januar. Sie sitzen in der einbrechenden Dunkelheit im Berliner Büro von A einander gegenüber und sprechen zum 7829 Male über die Zukunft der Zeitung. Während sie noch sprechen, tritt Klaus Wowereit als Flughafen-Aufsichtsratsvorsitzender zurück, belässt aber den Geschäftsführer im Amt.
A: Ich bin froh um jede Zeitung, die dichtmacht.
B: Du bist verrückt. Was kommt denn an deren Stelle?
A: Ich bin froh, wenn sie dichtmachen, bevor sie so pleite sind, dass sie keinem mehr etwas zahlen können. Es geht nicht darum, was an deren Stelle tritt. Das weiß niemand. Es geht darum, dass es einen geregelten Rückzug gibt.
B: Aber woher soll man wissen, dass es nicht wieder aufwärts geht? Die Konjunktur geht rauf und runter. Das ist nun mal so. Den roten Zahlen werden auch wieder schwarze Zahlen folgen.
A: Schwarze Zahlen? Woher sollen die kommen?
B: Zum Beispiel: Die Kosten senken.
A: Wie oft kann man das machen?
B: Bei uns ist da noch viel Spiel. Wir haben Auslandskorrespondenten. Wir haben Ressorts mit Fachredakteuren. Die Zeitung ließe sich deutlich billiger machen, verzichteten wir darauf.
A: So gewinnt man vielleicht Zeit. Wenn einem aber sonst nichts einfällt, zögert man allenfalls den Tod hinaus.
B: Was ist so schlecht daran? Man weiß nicht, was die Zukunft bringt. Also kann es auch gut sein, dass in drei, vier Jahren alles wieder viel besser aussieht für die Zeitungen.
A: Sage mir einen einzigen Grund für diese Annahme, außer diesem einen allgemeinen, dass wir nicht wissen, was morgen sein wird.
B: Die Leute haben die Schnauze voll von den 793 verschiedenen Apps. Sie sind gierig auf einen Überblick, einen gewichteten Überblick, der ihnen ein wenig Klarheit verschafft – oder doch wenigstens die Illusion davon – im undurchschaubaren Gewimmel der Fakten, eine Lichtung im Gestrüpp der Information.
A: Wie viel Leute müssen bereit sein, dafür Geld auszugeben, dass man ihnen diese Klarheit verschaffen kann? Wie viel Leute müssen bereit sein, dafür Geld auszugeben, damit das nun gar noch ein Geschäft wird?
B: Einhunderttausend?
A: Nenne mir eine einzige Tageszeitung mit einer Auflage von einhunderttausend Exemplaren, die das wirksam tut.
B: Die taz.
A: Okay, die taz mag eine Zeitung sein. Aber sie hat mit dem, worüber wir hier sprechen, nichts zu tun. Die taz ist kein Geschäftsmodell. Sie lebt von Spenden.
B: Dann eben zweihunderttausend Exemplare.
A: Wie viel soll der Leser zahlen für das Abonnement?
B: Naja, die Berliner Zeitung kostet über 300 Euro im Jahr. Die Süddeutsche über 500 Euro.
A: Das sind die Abonnementpreise unter der Prämisse: Es gibt Anzeigen. Bei sinkenden Anzeigen müssen wir deutlich höhere Preise einsetzen, wenn das Zeitungsmachen sich noch lohnen soll.
B: Viel höher wird man aber nicht gehen können.
A: Zumal man aus Kostengründen gerade die Qualität senkt. Hinzu kommt: Auf allen Kanälen des Internets hat man heute kostenlos Zugang zu Informationen, die einem früher fast nur die Tageszeitung bot. Die Tageszeitung ist längst ein Luxusprodukt geworden, ohne luxuriös zu sein.
B: Was tun?
A: Dicht machen.
B: Das hilft doch auch nichts.
A: Es hilft den Angestellten. Denn man kann ihnen Geld mitgeben in die Arbeitslosigkeit. Es hilft der Firma, denn sie behält Geld, um etwas Neues auszuprobieren.
B: Was soll das sein?
A: Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass das Prinzip Hoffnung allein noch niemals weiter geholfen hat. Nun gar ein Prinzip Hoffnung, das sich darauf kapriziert, dass schon alles wieder weiter gehen wird, statt sich, angesichts der fatalen Lage, auf die Suche nach etwas Neuem zu begeben und dort Hoffnung zu investieren und Schläue und Witz. Weiter gehen wird erst einmal nämlich gar nichts. Das Geschäftsmodell Zeitung, wie wir sie kennen, ist tot.
B: Große Worte!
A: Ich rede vom Geschäftsmodell Zeitung. Das lässt sich datieren. 1883 gründete August Scherl in der Berliner Zimmerstraße den Berliner Lokal-Anzeiger. Das war die erste deutsche Tageszeitung…
B: Quatsch! Die erste deutsche Tageszeitung – sie war auch die erste Tageszeitung der Welt – kam in Leipzig heraus. Und zwar schon 1650. Der Drucker Timotheus Ritzsch verwandelte 1650 seine „Wöchentliche Zeitung“, die übrigens vier Mal die Woche erschien – das Barock war, wer hätte das gedacht, die Epoche des Understatements -, in ein Blatt, das von Montag bis Samstag herauskam. Er nannte es „Einkommende Zeitungen“. Sie erschienen in einer Auflage von 200 Exemplaren.
A: Herr Ritzsch war Drucker und Redakteur. Den Vertrieb machten ein paar Straßenjungen.
B: Und?
A: Das hat mit den Zeitungen von heute nichts zu tun. Könnte aber, gäbe es nicht das Internet, die Zukunft der Zeitung sein. Also: Scherls Berliner Lokal-Anzeiger war die erste deutsche Tageszeitung – lass mich ausreden -, die sich über Anzeigen finanzierte. Die Zeitungen davor lebten entweder von ihren Abonnenten oder von Partei- und Verbandspenden. In diesen Zeitungen arbeiteten selten mehr als ein halbes Dutzend Redakteure. Die Verleger waren Gesinnungstäter oder aber Geschäftemacher, die sich eher fürs Nicht-Veröffentlichen als fürs Veröffentlichen bezahlen ließen. Sie waren oft das, als was einer der Vorfahren unserer Zunft – Pietro Aretino (1492 – 1556) – sich bezeichnete „condottieri della penna“. Sie verkauften ihre literarischen Dienste an den, der am besten zahlte.
B: Du schweifst ab. Was hat das mit der Zeitungskrise zu tun?
A: Ich schweife nicht ab. Ich weise nur auf ein anderes Geschäftsmodell hin. Es gab Journalisten vor der Zeitung und es wird sie nach der Zeitung geben. Mit Enthüllungsgeschichten und ihrer Veröffentlichung oder auch nur der Androhung ihrer Veröffentlichung wurde schon in der Antike Geld verdient, und ich bin sicher, es wird auch, wenn weder Bäume noch Lumpen mehr in Zeitungspapier verwandelt werden, weiter diese Art von Journalismus geben. Es wird auch Reporter geben und Kommentatoren.
B: Was also ist Dein Problem?
A: Die Tageszeitung, wie wir sie kennen, war etwas anderes. Sie schuf einen Raum, in dem alle möglichen schreiberischen und anderen Talente sich üben konnten. Man kaufte die Zeitung, weil sie einen mit Informationen in Text und Bild unterhielt. Sie war ein Gemischtwarenladen, in dem jeder etwas für sich finden konnte. Der Herr des Hauses – so war es noch vor vierzig Jahren – bekam die Zeitung, reichte Feuilleton, Lokalteil und Vermischtes an die Gattin weiter, widmete sich dem Leitartikel.
B: Eine Wilhelm-Busch-Idylle.
A: Die Zeitung scheint ein Relikt des 19. Jahrhunderts. Ihren größten Erfolg aber hatte sie, nicht wie die Zeitungshistoriker uns erzählen, in der ersten, sondern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Zeitung, mit der wir aufwuchsen, war keine Zeitung mehr bestimmter politischer Parteien oder gesellschaftlicher Gruppierungen. Sie war das geistige Futter der Gesellschaft des Massenkonsums. Darauf waren nicht die Leser gekommen. Sie wurde dazu durch die Anzeigen. Die Tageszeitung fungierte als Marktschreier. Die Produzenten stellten sich auf die Apfelsinenkiste Tageszeitung und priesen von dort aus einer gewaltig angewachsenen und unüberschaubar diffus gewordenen Zahl von Konsumenten ihre Produkte an. Eine riesige Mittelschicht von Menschen, die alle lesen und schreiben konnten, die interessiert waren an der Welt und ein Wörtchen mitreden wollten.
B: Das soll vorbei sein?
A: Das ist vorbei. Das Internet erreicht millionenfach mehr Menschen als jede Tageszeitung. Gleichzeitig aber ermöglicht es, jeden einzelnen Nutzer bis in die letzte Verästelung seiner Wünsche hinein zu erkennen, sodass man zielgenau nicht nur informieren, sondern auch – und das verändert derzeit auch die industrielle Fertigung – produzieren kann. Wer interessiert ist an der Welt, der erfährt im Internet millionenfach mehr als der alte Gemischtwarenladen Tageszeitung ihm anbieten kann. Auf Papier oder online ist da ganz gleich.
B: Das ist doch alles Zukunftsmusik. Ach, was heißt Musik! Das ist Schwarzseherei, Untergangsgetöse.
A: Vergiss das alles.
B: Doch hoffen, dass alles so weiter geht?
A: Nein.
B: Was dann?
A: Halte einen einzigen Gedanken fest: Nur die Zeitung überlebt, die ein Geschäftsmodell hat.
B: Natürlich.
A: Nix natürlich. Ein Geschäftsmodell ist eine Vorstellung, wie man Geld verdienen kann. Es geht nicht darum, in einem überkommenen System weiterzuwursteln. Das ist Sache der Buchhalter.
B: Aber ohne die geht es doch nicht.
A: Richtig. Aber viel wichtiger ist heute eine Geschäftsführung. Für die Verwaltung eines schrumpfenden Status quo braucht man keine Geschäftsführung. Das kann ein Prokurist.
B: In den letzten Jahren ist die Geschäftsführung an Controller und Buchhalter übergegangen?
A: Exakt. Solange die Branche expandiert, ist das gar nicht schlecht. Es schützt vor Verschwendung. Aber gerade wenn es eng wird, kann man mit denen nichts mehr anfangen. Dann sollte überprüft werden, ob die Geschäftsführung eine Führung ist, ob sie ein Geschäftsmodell hat, ob sie also Vorstellungen darüber hat, wie Geld verdient werden soll.
B: Wer soll das feststellen?
A: Der oder die Eigentümer natürlich. Wenn sie klug sind, werden auch die Betriebsräte sich dafür mehr interessieren als für das 13. Monatsgehalt. Denn hier entscheidet sich, ob der Betrieb eine Zukunft hat oder nicht. Eine Geschäftsführung, die nicht weiß, wie man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln oder einem Teil davon Geld verdient, die muss wenigstens Ideen haben, wie man es verdienen könnte und die Mittel bereitstellen, diese Ideen auszuprobieren. Sonst ist sie keine Geschäftsführung. Sie muss sie ausprobieren und sie muss sie, wenn sie nichts taugen, wieder wegwerfen können. Wenn die Firma nur noch zuschauen kann, wie immer mehr Geld verschwindet, dann sollte sie lieber früher als später geschlossen werden. Ein Unternehmen ohne Geschäftsidee ist keines.
B: Was würdest Du tun?
A: Wenn ich keine Idee hätte? Ich würde den Laden dicht machen, bevor er mich und jeden einzelnen Angestellten in den Ruin treibt.
350 Jahre Tageszeitung – Forschungen und Dokumente, hrsg. von Arnulf Kutsch und Johannes Weber, edition lumière, Bremen 2002, 220 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 25 Euro, vergriffen.
400 Jahre Zeitung – Die Geschichte der Tagespresse im internationalen Kontext, hrsg. von Martin Welke und Jürgen Wilke, edition lumière, Bremen 2008, 534 Seiten, 16 Farbtafeln, zahlreiche Abbildungen, 39,80 Euro.
Weggeben, um behalten zu können
In Heidelberg, im Kurpfälzischen Museum, wird noch bis zum 10. Februar die Ausstellung „Kirschblütenträume – Japans Einfluss auf die Kunst der Moderne“ gezeigt, im Zentrum Paul Klee in Bern noch bis zum 12. Mai: „Vom Japonismus zu Zen – Paul Klee und der ferne Osten“. Wer nicht hin kann oder sowieso alles viel lieber von seinem Sessel aus macht, der kann sich die Kataloge kommen lassen.
Hans Günther Schwarzs Einleitung zum Heidelberger Katalog macht klar, dass es gerade die plötzliche Öffnung Japans für den Westen im Jahre 1854 durch den US-amerikanischen Admiral Perry war, die Japans Kunst mit einem Schlag zur Sensation machte. Es war weniger das klassische Japan als vielmehr die neue Kunst der Holzschnitte, die aktuellen Themen, raffinierten Ansichten, die Furore machten. Sie führten Europa nicht eine bisher unbekannte Vergangenheit vor, sondern eine andere realexistierende Moderne.
Die europäischen Künstler waren Feuer und Flamme. Vincent van Gogh schrieb seiner Schwester: „Du kannst Dir wohl eine Vorstellung machen von der Veränderung in der Malerei, wenn Du zum Beispiel denkst an die japanischen Darstellungen, die man überall sieht, Landschaften und Figuren, Theo und ich haben Hunderte japanischer Drucke.“ Bedauerlicherweise waren die Heidelberger Katalogmacher sich wohl zu fein, japanische und europäische Arbeiten direkt einander gegenüber zu stellen.
So blättert man immer wieder hin und her zwischen den japanischen und den westlichen Werken. Nur bei den Illustrationen zu den Einführungen wird einem der direkte Vergleich, vor allem in dem Aufsatz über den – wenn man so sagen darf – Japonisten Adolf Hölzel (1853-1934), leicht gemacht. Zum Beispiel durch die Gegenüberstellung einer Tusche- und Buntstiftzeichnung Hölzels mit dem Bild einer Tänzerin von Utagawa Kunisada I (1786-1864). Zu dem japanischen Farbenholzschnitt gehört freilich noch die Schrift, auf die Hölzel verzichtete. Das dauert dann noch bis Twombly, bis der Westen auch sie wieder hineinnimmt in seine Malerei.
In der Berner Ausstellung steht ein wunderbar jugendstiliger fünfteiliger Paravent von Paul Klee, der eine Aarelandschaft darstellt – jedenfalls im Katalog – neben einem Manga von Hokusai, der die Aufteilung eines Bildes in verschiedene Ansichten eben so klar zeigt. In Bern sind auch Klees Buchstabenbilder zu sehen. Sie sind Umsetzungen chinesischer Gedichte, keine Umwandlung chinesischer Kunst.
Die letzten Abschnitte beschäftigen sich mit der Klee-Rezeption in Japan. Bei Dichtern, Künstlern, Musikern und Architekten. Hier findet sich auch ein Hinweis auf Kazuya Takahashi, der 1998 einen Comic mit dem Titel „Klee’scher Mensch“ herausbrachte. Osamu Okuda, einer der beiden Redakteure des Katalogs, Mitarbeiter des Zentrum Paul Klee schrieb: „Inmitten eines zügig voranschreitenden Modernisierungsprozesses erkannte Japan in der Kunst Klees seine traditionellen ästhetischen Werte wieder, auf die es nun zurückgriff, um sich seine kulturelle Identität zu erhalten.“ Manchmal muss man weg geben, um behalten zu können.
Kirschblütenträume – Japans Einfluss auf die Kunst der Moderne, Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg, Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2012, 148 Seiten, s/w und farbige Abbildungen, 24,80 Euro.
Vom Japonismus zu Zen – Paul Klee und der ferne Osten, Scheidegger & Spiess, Zürich 2012, 152 Seiten, 157 farbige und 6 s/w Abbildungen, 38 Euro.
Mord und Todesstrafe
Im September 2009 sollte Romell Broom, 53 Jahre alt, Afro-Amerikaner, hingerichtet werden. 24 Jahre, nachdem er 1985 zum Tode verurteilt worden war. Wegen Entführung, Vergewaltigung und Ermordung eines 14-jährigen Mädchens. Die Hinrichtung scheiterte. 18 Mal hatte man versucht, ihm die Todesspritze anzusetzen. Es wurde keine Vene gefunden, in die das Gift hätte eingeführt werden können. Nach zwei Stunden wurde die Suche aufgegeben. Romell Broom wurde wieder in seine Zelle gebracht. Jetzt wird darüber diskutiert, ob man noch einmal versuchen darf, ihn zu töten. Inzwischen sind allerdings auch Zweifel an seiner Schuld aufgekommen. Michael Verhoeven fuhr nach Lucasville in Ohio, sprach mit Angehörigen und Freundinnen des Opfers, mit Angehörigen des Täters, mit Staatsanwälten und Polizisten, mit Gegnern und Befürwortern der Todesstrafe. Romell Broom in seiner Zelle zu besuchen, wurde Verhoeven verwehrt.
Aber telefonieren konnte er mit ihm. „Die zweite Hinrichtung“ heißt sein 2011 entstandener Film, der 2012 als DVD herauskam. Es ist ein sehr guter Film, weil er deutlich macht, wie schwierig es ist, herauszufinden, was wirklich passiert. Wie genau man arbeiten muss, wenn man keinen Fehler machen darf. Und angesichts der Todesstrafe darf man keinen Fehler machen. In einem Beistück erklärt David Kaczynski, der Bruder des Unabombers, warum er gegen die Todesstrafe ist und warum er seinen Bruder dem FBI anzeigte und wie schwer es ihm fiel.
In einem anderen Zusatzfilm wird die Gruppe Girl Power vorgestellt, die Mädchen hilft, so viel Selbstbewusstsein zu entwickeln, dass sie nicht mehr zurückschlagen, wenn sie geschlagen werden. Ihnen wird geholfen, Hoffnung zu entwickeln, herauszufinden aus ihren drogenabhängigen, prügelnden Beziehungen und Elternhäusern. Der Film beginnt mit einer Sequenz, in der eine young lady – so heißen sie bei Girl Power – sagt, ja, sie liebe ihren Vater, könne ihn aber nicht leiden. So ist der Zuschauer dabei, wie eine junge Frau versucht, erst einmal ihr Problem zu definieren. Sie ist nicht schlecht, also liebt sie ihre Eltern. Sie darf sie ja nicht nicht lieben. Sie kann sie vielleicht nicht einmal nicht lieben. Der Film endet mit drei Zeilen: „Das Programm ‚Girl Power‘ musste 2011 wegen fehlender Zuschüsse beendet werden.“
Michael Verhoeven, Die zweite Hinrichtung – Amerika und die Todesstrafe, DVD, Telepool GmbH, 15 Euro.
An solchem Koth Gefallen finden
Der Hamburger Felix Meiner Verlag bringt Hegel heraus, Kant und Descartes, Hume und Thomas von Aquin. Alles, das gut und teuer ist in der abendländischen Philosophie. Und dazu ab und zu auch einen Averroes, einen Chang Tsai, einen Maimonides und auch Nagarjuna, den bedeutendsten buddhistischen Philosophen. Es sind Bücher der großen Philosophen. Es sind, so sagten wir vor vierzig Jahren, die großen Texte.
Wir saßen in den Seminaren mit den Meiner-Ausgaben der Philosophischen Bibliothek auf den Knien und studierten die Einleitung in die Hegelsche Rechtsphilosophie Wort für Wort. Wir kamen so kaum über ein oder zwei Dutzend Autoren hinaus. Die Philosophiegeschichte erschien als ein Gespräch zwischen Büchern. Die Männer – es waren ausschließlich Männer – hatten nie mit einander diskutiert. Sie nahmen sich die Bücher des anderen vor und schrieben ihr eigenes dagegen. Spätestens wenn sie damit fertig waren, war ihr Gegenüber tot.
Man lernte das Gegenüber auch dann zu erkennen, wenn sein Name verschwiegen wurde. Es gehörte nämlich zu nicht wenigen der großen Texte, dass sie sich so gaben, als seien sie fix und fertig aus dem Kopf ihres Autors gesprungen, als wären sie nicht aus einem Gemetzel – mindestens der Argumente – hervorgegangen. Sie sollten da sein wie Mörikes Lampe: Selig in sich selbst.
2012 brach der Verlag mit dieser Tradition und legte Einblick in ein paar Schlachten der Philosophiegeschichte vor. Drei Bände, die klar machen, dass Philosophie nicht nur in dicken Büchern, an denen Jahre lang geschrieben wird, geschieht, sondern auch im Handgemenge von Zeitschriften und Tagungen. Ein Band dokumentiert den Materialismus-Streit. Also Ludwig Büchners, des Bruders des Dichters Georg Büchner, Klassiker „Kraft und Stoff“ von 1855 und was dagegen geschrieben wurde und natürlich die Schriften Carl Vogts und Jacob Moleschotts mit den Kritiken.
Aber eben auch Wagners Vortrag auf einer Tagung deutscher Naturforscher und Ärzte und die Entgegnungen darauf. In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, also nach der niederkartätschten Revolution von 1848 wird in Deutschland um den Materialismus gestritten, darum, was man unter der Seele zu verstehen hat. Aber auch unter Anstand und Kunst. 1863 schreibt Matthias Jacob Schleiden (1804-1881) einen Generalangriff auf die Materialisten. Schleiden war Dr. jur. und studierte danach Biologie, wurde Ordinarius für dieses Fach an der Universität Jena, entdeckte die Zellstruktur der Pflanzen, er akzeptierte die Evolutionstheorie Darwins. Er hatte Händel mit der Kirche und starb als Privatgelehrter in Frankfurt am Main. Den Materialismus von Büchner, Vogt und Moleschott empfand er als intellektuell minderwertig und manchmal als sittlich anstößig.
So schreibt er: „Ich muss schließlich noch das Traurigste von allem hervorheben, das ist die tiefe Unsittlichkeit der materialistischen Lehren… Materialistische Lehrsätze von einer moralisch verworfenen Gesellschaft vorgebracht, wie sie etwa eben jetzt zum zweitenmal in einem Jahrhundert aus der moralisch verfaulten Pariser Gesellschaft herübertönen….“ Nach fünfzig Jahren Elysée-Vertrag sagt das keiner mehr. Zu „verfaulten“ gibt es eine Fußnote.
In der heißt es: „Wer Beispiele will, der lese Gustave Flauberts ‚Madame Bovary‘ oder seine rasch in zweiter Auflage erschienene ‚Salambò‘. Nur eine moralisch völlig vernichtete Gesellschaft kann an solchem Koth Gefallen finden.“
Der Materialismus-Streit, hrsg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012, 380 Seiten, 42 Euro. Auch das eBook kostet 42 Euro.
Der Darwinismus-Streit, hrsg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012, 422 Seiten, 48 Euro. Auch das eBook kostet 48 Euro
Der Ignorabimus-Streit, hrsg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012, 297 Seiten, 38 Euro. Auch das eBook kostet 38 Euro.
Der Komposthaufen im Museum
Auf den Seiten 28-29 sieht man das Atelier des irisch-englischen Malers Francis Bacon (1909-1992). Eine Messie-Hölle. Oder muss man dieses völlig verdreckte Über- und Durcheinander von Farbtöpfen Pinseln, Leinwänden, Whisky-Kartons, von Zeitungen, Zeitschriften und Fotos, die sich über mehrere Schichten auf dem Boden angesammelt haben ein Messie-Paradies nennen?
Francis Bacon war Alkoholiker, Spiel- und ich weiß nicht was alles noch –süchtig. Er schlug sich und vertrug sich. Er war aber auch einer der größten Maler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Michael Peppiatt war dreißig Jahre lang befreundet mit ihm und hat mehrere Bücher über Francis Bacon geschrieben. Peppiatt ist Kurator der im Hamburger Bucerius Kunst Forum startenden Giacometti-Ausstellung.
Bei Piet Meyer sind Peppiatts „Gespräche in der Nacht“ mit Francis Bacon erschienen. Gespräche also, die er nach Sauf- und Spieltouren durchs nächtliche London mit Bacon und dessen Entourage mit dem Künstler führte, der nicht müde wurde und nicht schlafen konnte, der sich nach diesen Gesprächen noch hinstellte auf den Boden des Ateliers und neue Bilder schuf. Peppiatt beschreibt, wie Bacon auf seine Bilder zuging und wieder von ihnen zurücktrat und dabei auf den Boden sah und die Zeitungsfotos, den alten Schuh, den zerknäulten Pullover wahrnahm und wie diese Dinge eingingen in seine Bilder, meist nur in einer Spur, in einer schmutzigen Farbnuance oder in einer schmerzenden Verrenkung, eingingen. Bacon nannte den Atelierboden „meinen Komposthaufen“.
Er wusste, wie sich dort alles zersetzte, aber – wichtiger noch -, er wusste auch, wie sehr er das brauchte, wie angewiesen er darauf war, dass er sein Leben, seine Geschichte zertrat. Peppiatt schreibt: „Auch wenn es naiv wäre zu denken, dass er gezielt Ideen daraus zog, so erzeugte dieses Durcheinander doch eine Atmosphäre visueller Erregung, in der sich Unvereinbares paarte und der Zufall Verbindungen schuf, und das wiederum stimulierte das Stakkato seiner Attacken auf die Leinwand.“ Es ist undenkbar, dass es sich nur um ein visuelles Erlebnis handelte.
Bacons Atelier war eine stinkende Höhle. Das Licht kam von oben, die Luft wahrscheinlich aus dem dunklen, schmalen Treppenhaus, das eine andere Fotografie zeigt. In diesem Atelier entstanden die berühmten Selbstbildnisse, das Triptychon usw. Im August 1998 wurde es, nachdem es zuvor akribisch aufgenommen und aufgezeichnet worden war, von London nach Dublin transferiert. Seit 2001 kann man Bacons Studio in der Dublin City Gallery The Hugh Lane besichtigen.
Michael Peppiatt: Gespräche in der Nacht – Francis Bacon über seine Arbeit, Piet Meyer Verlag, Bern 2011, aus dem Englischen von Klaus Binder und Kay Heymer, 138 Seiten, 55 Abbildungen, 40 in Farbe, 28,40 Euro.
Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund
Auf der Sachbuchliste steht Pola Kinskis Buch „Kindermund“ auf Platz 2. Zu Recht. Es ist ein ergreifendes, ein mitreißendes Buch. Man entkommt ihm nicht. Der Erfolg hat sicher viel mit Talk-Shows und Bildzeitung mit Sex und Skandal zu tun. Das alles ist in dem Buch. Vor allem aber ist Liebe darin. Furchterregend viel Liebe. Fürchterlich viele Arten von Liebe. Da ist die Liebe, von der jetzt alle reden, die Liebe des Vaters zu seinem Kinde. Die Liebe, die sexuelles Verlangen ist und Machtrausch in einem. Die erniedrigende, ja vernichtende Liebe. Da ist die Liebe der – sagen wir Elfjährigen, sie wurde vierzehn Jahre lang missbraucht – zu ihrem Vater, die ihn bewundert und hasst, die von ihm geliebt, umsorgt und geachtet werden möchte.
So wie er sie liebt, so will sie von ihm nicht geliebt werden, und der Vater will sie nicht lieben, wie sie von ihm geliebt sein möchte. Wie er die Mutter nicht lieben konnte, wie sie geliebt werden mochte. Wie er wohl nicht lieben kann ohne den Rausch der eigenen Allmacht. Mehr noch als nach der richtigen Liebe des Vaters, an die zu glauben sie wohl schon sehr früh aufgegeben hatte, sehnt das Mädchen sich nach der Liebe der Mutter. Die aber flieht vor dem Kind und seiner Liebe. Das Kind weiß nicht warum. Es beobachtet diese Fluchtbewegungen, es registriert, wenn die Mutter sich beim Abschied abwendet, ohne sich, wie das Kind es ersehnt, sich noch einmal umzudrehen und ihm zuzuwinken.
Das Kind sieht das alles, es spürt die Ablehnung. Auf die Liebe der Mutter muss es verzichten, aber es kann nicht leben, ohne sie zu lieben. Als der Vater der Mutter krank ist, bittet die Mutter das Kind, es solle doch sich ins Bett neben den Großvater legen. Als der Großvater dem Kind zwischen die Beine greift, flieht das Kind. Wohin? Ins Badezimmer. Sie versteckt sich neben die Waschmaschine. „Erst als längere Zeit nichts zu hören ist, wage ich mich zu Mama und frage, ob ich baden darf. Sie wundert sich zwar, hat aber nichts dagegen. Es dauert, bis die Wanne bis oben hin voll ist. Ich steige hinein und tauche unter, bis nur noch meine Nase aus dem Schaumgebirge schaut.“
Die Alliteration ist nicht das einzige Stück Literatur in dieser kleinen Passage. Auch der Schaum ist nicht nur real. Er ist auch Zitat. Sie will den Sex loswerden, aber sie entkommt ihm nicht. Der Schaum, aus dem Aphrodite geboren wurde, war der von Blut, Wasser und Samen ihres Vaters, entstanden bei dessen Kastration. Das Buch selbst, die Arbeit daran, ist ja selbst ein solches Schaumbad. Sie breitet die Körperflüssigkeiten ihres Vaters aus und was sie für sie bedeuteten und bedeuten, um sich von ihnen zu befreien. „Kindermund“ ist voller solcher Anspielungen. Die erste Beschreibung eines sexuellen Übergriffes des Vaters hat ein Vorspiel. Ein paar Zeilen vorher nähert sich im Schwimmbad dem Mädchen ein alter Mann. Er „wird aufdringlich“, heißt es. Dann ruft der Lautsprecher nach einem Mädchen namens Pola, das zur Kasse kommen soll.
Dort erwartet sie ihr Vater. Auch der Titel „Kindermund“ erinnert ja nicht nur an „tut Wahrheit kund“, sondern auch an „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“, eine Wendung, die durch des Vaters Villon-Zech-Lesungen zu einer geflügelten Redensart wurde. Pola Kinski erzählt von den vielen Arten zu lieben. Sie erzählt sie aus einer unklaren, aber gerade darum aufrichtigen Perspektive. Sie versucht, sich einzudenken und einzufühlen in das Mädchen, das sie einmal war. Aber sie weiß auch, dass sie nicht so tun kann, als wäre sie das Mädchen.
So mischen sich manchmal in einem Satz die Erinnerung an einen Blick von damals mit einer Ansicht von heute. Auch mit einem Stilwillen von heute. Möbel stehen im Raum wie versteinerte Tiere. Das ist vielleicht der Blick eines Kindes, aber es ist die Formulierung einer erwachsenen Frau, einer Schriftstellerin, die einem Kind ihre Sprache verleiht bei dem Versuch, es endlich seine Sprache finden zu lassen. Das ist das Dilemma aller Literatur. Hier ist es in aller Deutlichkeit zu sehen, weil Erinnerung hier heißt, sich ins Gedächtnis rufen, dass man erniedrigt und beleidigt, vergewaltigt, zerstört und vernichtet wurde. Von dem, der einen erzeugt hatte.
Der also auch das Recht dazu hat. Wie der Gott, der, da er die Welt schuf, auch das Recht hat, sie zu vernichten. Das macht das Kind noch wehrloser als es eh schon ist. Das macht das Schreiben gegen diese Wehrlosigkeit noch anstrengender. Pola Kinski hat diese Arbeit getan. Sie hat sie auch für uns getan, die wir unsere Kindheit eingekapselt haben in das Vergessen. Danke! Danke auch übrigens dafür, dass sie aufgehört hat mit den Beschönigungen über ihren Vater, diesen schwerkranken und schwerst kränkenden Erniedriger und Beleidiger. Niemand, der ihn je erlebt hat, wird wirklich überrascht sein. Wir haben als freie Entfaltung eines wildlebenden Individuums gefeiert, was nichts war als die Lust an der Zerstörung der Freiheit der anderen.
Pola Kinski: Kindermund, Insel Verlag, Berlin 2013, 268 Seiten, 19,95 Euro.