Nach neuen Vorwürfen: Warum diese Bilder nicht antisemitisch sind
Nach neuen Antisemitismus-Vorwürfen fordern einige, die Documenta zu beenden. Die Leitung will Bilder prüfen lassen. Unser Autor sagt: Vergesst den Kontext nicht!

Gegen die Weltkunstschau Documenta fifteen sind bekanntlich bereits Monate vor ihrer Eröffnung schwere Antisemitismus-Vorwürfe erhoben worden. Ausgewiesene Antisemitismus-Forscher suchte man unter den Kritikern vergeblich. Und auch manch Kunsthistoriker unter ihnen zeigte sich in Bezug auf außereuropäische Geschichte und europäische Kunstgeschichte erschreckend ignorant.
So wurde etwa der palästinensische Künstler Mohammed al-Hawajri wegen seiner Bildserie „Guernica Gaza“ bezichtigt, einen NS-Vergleich zu insinuieren. Völlig außer Acht blieb dabei jedoch, dass Picassos Monumentalbild „Guernica“, das 1937 als Reaktion auf die Zerstörung des gleichnamigen baskischen Dorfes durch die deutsche Luftwaffe entstand, seit Jahrzehnten ein universelles Antikriegssymbol ist. Als solches wurde es auch von zahlreichen Künstlern paraphrasiert und auf aktuelle Gewalt- und Kriegsgeschehen bezogen, ohne dass jemals jemand auf die Idee gekommen wäre, dies als abwegige oder gar als antisemitisch motivierte NS-Analogie zu brandmarken.
Blindheit gegenüber der Weltgeschichte zeigte sich bei hiesigen Rezipienten auch im Fall des abgehängten Banners „People’s Justice“ des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi, zu welchem diese Zeitung eingehende Analysen lieferte. Ignoranz und Scheuklappen-Mentalität kennzeichnen jetzt auch den skandalisierenden Umgang mit einigen als „antisemitisch“ verfemten Kinderbuchillustrationen und Karikaturen, die in einer auf der Documenta ausgelegten algerischen Publikation enthalten sind und den gewalttätigen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern thematisieren.
Die Illustrationen entstammen der Zeit vor den Oslo-Verträgen
Sie sind Teil einer Ausgabe der Zeitschriftenreihe „Présence des Femmes“, die das Frauenkollektiv „Archives des luttes des femmes en Algérie“ in Kassel ausstellt. Das Heft war 1988 von dem algerischen Akademikerinnen-Kollektiv „Atelier de Réflexion sur les Femmes Algériennes“ (ARFA) als Sonderheft zu Palästina veröffentlicht worden. Für die Documenta wurde das ursprüngliche Zeitschriftenheft reproduziert und die losen Blätter auf zwei jeweils mit einem Ring zusammengeheftete Mappen verteilt. Obwohl das auf der Documenta vertretene Frauenkollektiv „Archives des luttes des femmes en Algérie“ bereits am Mittwoch in einer ersten Stellungnahme den historischen Anlass dieser Publikation nannte, wurde dieser in den ersten, hysterisierenden Presseberichten geflissentlich ignoriert.
Das spricht Bände: Denn das Jahr 1988 ist in der palästinensischen Geschichte von einer besonderen Bedeutung. Am 15. November wurde damals auf einer Sitzung des Palästinensischen Nationalrats im Exil in Algier der palästinensische Staat ausgerufen. Die symbolische palästinensische Unabhängigkeitserklärung war eine Konsequenz aus der Intifada, der nationalen Erhebung der Palästinenser, die knapp ein Jahr zuvor begonnen hatte. Dieser proklamatorische Akt war der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende die palästinensische Führung den Staat Israel anerkannte und mit ihm die Oslo-Friedensverträge schloss.
Die Mitglieder des „Archives des luttes des femmes en Algérie“ haben 2019 begonnen, die dokumentierten Aktivitäten und Publikationen der algerischen Frauenbewegung seit den 1960er-Jahren zu digitalisieren. Laut ihrer Pressemitteilung hatten sich die Herausgeberinnen besagter Zeitschrift 1988 „mit dem palästinensischen Volk solidarisiert und die vom israelischen Staat begangenen Verbrechen angeprangert“. Diese Solidarität möchten die Mitglieder des „Archives des luttes des femmes en Algérie“ bei ihrer Dokumentation in einen breiteren historischen Kontext stellen. Sie heben den Kampf der algerischen Frauenbewegung „für Gleichberechtigung“ wie auch „gegen alle Formen der geschlechtsspezifischen Diskriminierung, aber auch gegen die Unterdrückung der Völker, einschließlich der Palästinenser“ hervor.
Algerien sei in den 1960er- und 1970er-Jahren ein bekannter Zufluchtsort für viele Befreiungsbewegungen wie die südafrikanische und die Black Panther gewesen. Dem sei hinzugefügt, dass die algerische Solidarität mit der Sache der Palästinenser in der arabischen Welt einen besonderen Fall darstellt. Palästinenser hatten den Befreiungskampf der Algerier gegen die französische Kolonialherrschaft von Beginn an unterstützt. Nach Erlangen der Unabhängigkeit machte es sich der algerische Staat zur Pflicht, den Palästinensern zur Seite zu stehen.
Im Sonderheft zu Palästina kommt auch Naji al-Ali vor
Aus dieser tiefen Empathie war die arabischsprachige Publikation des ARFA-Kollektivs entstanden. Sie galt, wie im Vorwort nachzulesen ist, besonders auch den verletzten und getöteten palästinensischen Kindern und Jugendlichen, die sich damals Straßenschlachten mit der israelischen Besatzungsarmee lieferten, was allein 1988 knapp 50 von ihnen das Leben kostete. Auch mit den Müttern der aufständischen Jugendlichen fühlten die Algerierinnen mit. Ihr Sonderheft zu Palästina – auf das Vorwort folgt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – enthält auch deshalb neben Materialien zur palästinensischen Geschichte emotionalisierende Werke von palästinensischen und mit ihnen sympathisierenden arabischen Dichtern und Zeichnern.

Zu Letzteren zählt etwa Naji al-Ali (1938–1987), einer der wichtigsten palästinensischen politischen Karikaturisten. Er stammte ursprünglich aus dem Dorf Al-Schajara westlich von Tiberias, aus dem die Familie während des israelisch-arabischen Kriegs von 1948 in den Südlibanon floh. Al-Ali wuchs dort im Flüchtlingslager Ein al-Hilwa bei Sidon auf und arbeitete später als Karikaturist für eine Reihe arabischer Blätter. In seinen Zeichnungen – eine Art Signatur ist „Handala“, eine beobachtende Kinderfigur, die nur von hinten zu sehen ist – verurteilte Naji al-Ali nicht nur die israelische Besetzung der Palästinensergebiete. Häufig kritisierte auch er die in seinen Augen viel zu passive Haltung der arabischen Regime gegenüber der palästinensischen Sache.
Dies ist nun auch das Thema einer seiner in dem algerischen Heft enthaltenen Karikaturen. In der Mitte erscheint eine traditionell gekleidete robuste Frau, die einem sich krümmenden israelischen Soldaten kräftig in den Unterleib tritt. Auf der linken Seite des Bildes wird auf Arabisch darauf hingewiesen, dass es sich um die „Intifada im Westjordanland“ handele – wohlgemerkt nicht die von Ende 1987, denn al-Ali war schon rund ein halbes Jahr zuvor von einem Unbekannten in London erschossen worden. Die Zeichnung dürfte aus den späten 70er- oder frühen 80er-Jahren stammen – schon damals wurden größere Protestaktionen gegen die israelische Besatzung im arabischen Diskurs als „Intifada“ bezeichnet.
Die Karikatur kritisiert Tatenlosigkeit arabischer Regime
Rechts im Hintergrund sind zwei Fußpaare zu sehen, die auf einen Geschlechtsakt hindeuten. Die beiden mittleren Füße tragen Davidsterne, auf den äußeren steht auf Arabisch: „Die unterwürfigen Regime“. Anders als in den kursierenden, voreiligen Interpretationen behauptet, geht es hier keineswegs um die Vergewaltigung einer Araberin durch einen Israeli. Vielmehr geißelte al-Ali so die Tatenlosigkeit der arabischen Regime, die die Palästinenser nicht nur im Stich ließen, sondern sich Israel – im übertragenen Sinne – sogar hingäben. Nicht zuletzt die starke Präsenz der Frauenfigur im Bild, die hier als Symbol für Palästina fungiert, dürfte seinerzeit das ARFA-Kollektiv inspiriert haben, die Karikatur in seine Materialsammlung mit aufzunehmen.
Die strahlende, positiv geladene Frauengestalt kontrastiert mit der Figur des israelischen Soldaten, dem der palästinensische Karikaturist jene verzerrten Gesichtszüge verlieh, die auch sonst aus seinen Zeichnungen bekannt sind: Hakennase und ein generell finsteres Aussehen. Entlehnt ist dies zwar der europäischen antisemitischen Bildsprache, doch im nahöstlichen Kontext sind überzeichnete Physiognomien keinesfalls nur auf palästinensischer Seite zu finden. So waren in der israelischen, besonders der rechtsgerichteten Presse in jener Zeit, als Naji al-Alis Zeichnung entstand, durchaus auch vergleichbare typisierte Darstellungen von Arabern gang und gäbe: Große Nase und finsterer Blick bei Aggressoren und ein bis ins Lächerliche gesteigerter, panischer Gesichtsausdruck bei den „Besiegten“ – vergleichbar mit al-Alis Soldatenfigur.
Auch Burhan Karkoutlys Kinderzeichnungen wurden verurteilt
Als „antisemitisch“ gebrandmarkt wurden in der jetzigen Skandalisierungsrunde auch einige Bilder des syrischen Zeichners Burhan Karkoutly (1933–2003), die die algerischen Aktivistinnen ebenfalls in ihr Palästina-Heft aufnahmen. Karkoutly hatte den Publikationen der palästinensischen Befreiungsbewegung zahlreiche Grafiken beigesteuert. In dem ausgestellten Heft in Kassel handelt es sich um einige seiner Illustrationen zu dem ursprünglich 1969 in Beirut erschienenen Kinderbuch „Die Kinder von Ghasan Kanafani“.
Der 1948 in Akko geborene palästinensische Schriftsteller Kanafani war seinerzeit Sprecher der palästinensischen Kampforganisation Volksfront für die Befreiung Palästinas und sogar einer ihrer publizistischen Wortführer. In den sechs Kurzgeschichten des Erzählbandes schilderte Kanafani, der 1972 in Beirut durch ein auf ihn verübtes Bombenattentat getötet wurde, das Leben der Palästinenser in den Flüchtlingslagern.
In einigen der Kurzgeschichten wurden auch palästinensische Geschichte und manche Gräueltat thematisiert, die die israelische Armee im Krieg von 1948 an Palästinensern beging. Die Buchillustrationen von Karkoutly sollten den Kindern in stilisiert vereinfachender Form das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen dem mächtigen israelischen Feind – durchgehend typisiert als soldatische Schreckensfigur – und den unterlegenen, hier meist als Kinder oder Jugendliche erscheinenden Palästinensern veranschaulichen und ihr Bewusstsein für den nationalen Widerstand stärken.
Das Bild, auf dem einer dieser Soldaten ein Kind am Ohr packt, ist nicht etwa – wie in hiesigen deutschen Presseberichten irrtümlich suggeriert – eine Einladung zum „Kindermord“. Vielmehr wird auf der Folie der damals jüngeren traumatischen palästinensischen Geschichte die bedrückende Lage der Palästinenser unter israelischer Besatzung als anhaltende Gewaltgeschichte dargestellt. Die leer stehenden Häuser und die kahlen Hügel im Hintergrund spielen ebenso wie das angedeutete Massengrab davor auf die Vertreibung und Flucht der Palästinenser während der Nakba von 1948 an: Ereignisse, die vereinzelt auch von Gräueltaten und Massakern an palästinensischen Zivilisten begleitet waren.
Diese und die anderen aufgefallenen Zeichnungen als antisemitisches Machwerk zu verunglimpfen und sie unter diesem Vorwand aus der Ausstellung zu entfernen, wäre politische Zensur. Dagegen haben viele der Documenta-Künstler erst kürzlich zu Recht protestiert. Dass die Documenta-Leitung die Bilder nun kontextualisieren will, ist aber auf jeden Fall zu begrüßen.
Joseph Croitoru ist ein in Haifa geborener Historiker, Autor und Journalist.