Nachruf auf André Glucksmann: Eine Flucht ins Ungewisse

André Glucksmann wurde am 19. Juni 1937 in Frankreich geboren. Ein paar Monate früher und er wäre in Deutschland zur Welt gekommen. Seine Eltern, osteuropäische Juden, waren in den 1920er Jahren nach Palästina gekommen, hatten sich dort kennengelernt. 1930 gingen sie, die inzwischen zwei Töchter hatten, ausgerechnet nach Deutschland.

1933 schlossen sie sich dem Widerstand an. 1937 erst flohen sie nach Frankreich. Der Vater starb, als die deutschen Truppen 1940 dort einmarschierten. Mutter und Kinder kamen zunächst in ein Lager, wurden dann aber wieder freigelassen.

André Glucksmann war das Kind von Flüchtlingen, und er war selbst ein Flüchtling. Man sollte sich das vor Augen halten, bevor man André Glucksmann als nichts als einen Renegaten sieht und vorschnell reduziert auf die zum geflügelten Wort gewordene F. W. Bernsteinsche Wendung: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.

Propagandist der proletarischen Wende

Das erste Buch, das ich von Glucksmann las, war sein „Diskurs über den Krieg“, erschienen 1967. Es beeindruckte mich damals sehr. Ein gelehrtes Buch, das den Partisanenkrieg, nicht nur den Clausewitz’, sondern auch den Mao Tsetungs, mit reflektierte, wo sonst fast nur vom Drohpotential der Atomwaffen die Rede war. Es war ein nüchternes Buch. Sein Realismus hatte mit der Bekehrung zu tun, die damals aus Kriegsdienstverweigerern Menschen machte, die Waffen für den Vietcong sammelten.

Er war damals einer der Propagandisten der proletarischen Wende der Protestbewegung von 1968. Nicht mehr die Fantasie sollte an die Macht, sondern das Proletariat. Ihm und seinen Freunden gelang es, Jean Paul Sartre, den inzwischen fast erblindeten intellektuellen Gott und Abgott der Nachkriegszeit, dazu zu bewegen, ihre Flugblätter auf den Straßen von Paris zu verteilen. Fotos, die viele meiner Generation bis heute nicht vergessen haben.

Der Donnerschlag, der André Glucksmann 1975 zu einer Weltberühmtheit machte, war „Köchin und Menschenfresser - Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“ (1976 erschien das Buch unter diesem Titel im Verlag Klaus Wagenbach). Es war eine Glosse, ein Kommentar zu Alexander Solschenizyns „Der Archipel Gulag“.

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