Gedichte von Volker Braun: Was haben Sie 2020 gemacht?
Er begegnet Rudolf Bahro wieder – ohne Mundschutz –, er beobachtet „Katarrh im Kulturbetrieb“ und sieht: „Der Staat geruht zu regieren.“ Volker Braun veröffentlicht drei Gedichte zur Lage in der Berliner Zeitung.
Berlin-„Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab./ Streifenwagen/ schaun nach ob noch Leben ist/ Was haben Sie 2020 gemacht? – Die Hände gewaschen.“ Die drei Gedichte, die uns Volker Braun aus einem gerade entstandenen Zyklus zur Verfügung gestellt hat, sind unverkennbar Texte zur Zeit.

Foto: Berliner Zeitung/Gerd Engelsmann
In seinem Buch „Handstreiche“, 2019 erschienen, beginnt eines der Notate: „Er setzt auf die Gesellschaft.“ Wie eine Antwort folgt: „Das macht ihn zum Einzelgänger.“ Der Dichter, Dramatiker und Erzähler Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, seit 1965 in Berlin lebend, hat stets auf die Gesellschaft gesetzt. Während es ihm die Leser dankten in der DDR, indem sie seine Bücher wie Schätze hüteten, waren sein „Hinze-Kunze-Roman“ und viele weitere Arbeiten den Kulturpolitikern suspekt, gerade weil sie ins Innere der Gesellschaft wirkten.
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Volker Braun ist bis heute einer, der genau auf die Verhältnisse schaut. Wiewohl er das Ende der DDR als Revolution begrüßte, kritisierte er doch den Prozess der deutschen Vereinigung: „Der Osten war für den Westen offen, doch die große Masse wurde verprellt“, sagte er, als wir uns vor einem Jahr zum Interview trafen. Im Jahr zuvor, in seiner Kamenzer Rede, sprach er über die Stimmung in Sachsen rund um Pegida und warnte: „Ein Volk gibt sich auf, das sich nicht in die Welt stellt.“ Und jetzt? Jetzt schaut er, was der verordnete Stillstand im Zuge der Corona-Pandemie mit dem Volk macht, wenn die Kultur zum Schweigen gebracht ist, aber sich schon wieder Hände zum deutschen Gruß recken. Und er zitiert Ezra Pound, der im 20. Jahrhundert die Wissenschaft in Aufruhr sah. Volker Braun ist auch in seinen neuesten Gedichten erkennbar als wachsamer Zeitzeuge, dessen Blick durch Literatur und Geschichte geschärft ist.
Katarrhsis
Die Stadt ist ruhiggestellt
wie ein Pestpatient
Ein Morgenfrieden bis Mitternacht
Entmenschte Straßen, wie befreit
von der Krätze
Der Kunden. Der Senat schließt die Kneipen zu
Die Stadien verwaisen BLEIERN UNION. Die Museen
Den Marmor-
mumien, die Theater den Geistern
HALT. WER DA / NEIN, ANTWORTE DU MIR
Nicht vor Publikum, nicht in dieser Saison.
Platzangst Flachatmung Katarrh im Kulturbetrieb, einmal
All dem (Unfug) Einhalt gebieten EIN JAHR OHNE KUNST
So kommt Ruhe ins Verfahren, ihr Dilettanten.
Auch die Tafel
ist dichtgemacht,
eine Schutzmaßnahme
Aber having non (Habenichtse) hath no care to defend it.
Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab.
Streifenwagen
schaun nach ob noch Leben ist
Was haben Sie 2020 gemacht? – Die Hände gewaschen
Kein Shakehands, doch vorsichtshalber der deutsche
Gruß. Der HErr zieht den Finger zurück in der cappella sistina
Damit er sich nicht ansteckt
in der Risikogruppe
Der Überalten, jeder vierte (Gott) stirbt.
Ein Schatten streift dich bloß, ein fahler Hauch
Touchiert deine Lungen, du atmest durch
Im Anthropozän
The scientists are in terror
And the European mind stops (Canto CXV)
China schwitzt das Übel im Schwitzkasten aus
Ein Unterarmwürgegriff (: in die Armbeuge husten)
Lernt, Kontinente, die Lava kochen
Sorgen des Staatswesens
Die Wesen sehn das Staatswesen an. Es ist ernst
Geworden. Was kommt auf uns zu?
Man sieht nichts, und sie lachen ernst, trinken Bier
Lästern. Der Staat geruht zu regieren.
Soviel Wesens sonst um nichts, Routinen Bluff
In den Parlamenten. Es ging um die schwarze Null.
Er hat lange nicht nachgedacht, nichts zurückgelegt, keine
Gedanken gehortet. Nicht einmal das Klopapier
Das sie wert ist. Jetzt darf er Mittel in die Hand nehmen
In beide Hände, die Bevölkerung ersuchen etc. etc.
Jetzt spricht die Queen. Boris Johnson
Liegt auf der Intensivstation bzw. es geht ihm besser
Die Büste des Perikles steht im Office, Downing Street 10.
Der Stratege, der bevor er den Krieg in Attika lostrat
Die Bürger zwischen die Langen Mauern einlagerte
Wo sich im Gewühl der Tod breitmachte. Seine zwei Söhne
Erlagen der Pest, auch Perikles. Boris denkt
Er habe das Beste noch vor sich
Ein gewöhnliches Wesen
Fragt im Radio: wie lange geht das schon so?
Daß ein beinahe heilloser Stillstand herrscht,
und sich wies scheint
Nur die Gewinn- und Verlustmaschine dreht
Ohne erkennbaren öffentlich-kulturellen Sinn? – Die Athener
Ließen sich Theatergeld und Kornspenden ausschütten.
Meinem Wesen entspricht
seh ich das da
Daß ich Abstand halte und auf Anfrage twittere:
Ich bin
nicht der
Und meine Billigung
ihr
habt nicht. Wir
wissen nicht was werden können.
wir
Aber es gibt natürlich ausführlichere Metren
Für Worte wie mitleiden-
schaftlich, gemeinsüchtig
Menschenmöglich, wenn es uns ernst wird.
Was reden was denken wir hin –
Mehr als wir denken sind wir
sagte Einer kurz-
Angebunden
Der Aussätzige
Ich sah Bahro wieder, in Worms. Er ging ohne Mundschutz
Seit Bautzen, er war immun; während wir uns in Selbsthaft verfügten.
Wer bist du? rief ich. – Noch einmal ein Mensch, er lachte befreit:
Im Übergang –
Es waren ihm Flügel gewachsen
Und er trug Kissen mit sich für die Meditation
Vor der Megamaschine. Ausgebremst war sie auf seinen Befehl
Die Aeroplane vom Himmel geholt, und pünktlich fallen die Züge aus.
Das Leben zwangs-
entschleunigt, „nur noch ums Haus herum“
Geht die Logik der Rettung, „das Nichtstun bringt es.“
Wie sie bewegt ist, miteinmal, stillezustehn,
die Welt
Wie zur Besinnung gebracht. „Das Naheliegende birgt das Geheimnis.“
So fuhr er fort.
Die Alte, ausgemergelt, dement
Vom Speed, schrie uns vom Kaufland zu: Pandemie
Lacht und schlägt um sich mit dürren Armen, rastet aus
Und St. Rudi umarmte sie furchtlos, sein Schweißgeruch
Und andre Vorsicht rissen mich rückwärts, froh doch
Dem Kumpel wiederbegegnet zu sein in besseren Zeiten.