Neues Kunstzentrum in Lichtenberg: Zurück in die Zukunft
Berlin - Die Jackentasche beult sich. Das neueste Utensil des Kunstsammlers Axel Haubrok ist ein gewaltiger Schlüsselbund mit farbigen Schildchen. Der macht den aus Westfalen stammenden Wahlberliner zum Herrn über Schlösser, Türen, Garagentore. Das Entziffern der alten, verwischten Schrift ist nicht einfach. Das Zuordnen der Schlüssel zum jeweiligen Schloss in den zahlreichen Gebäuden, Nebengelassen, sogar einer stillgelegten Tankstelle grenzt ans Detektivische.
Seit drei Wochen nennt das bekannte Sammlerpaar sperrigster, sprödester junger Kunst auch noch das ruppigste Anwesen, das für Berlins Außen-Ostbezirke typisch ist, sein Eigen. Hier will es die Haubrok-Kunststiftung ansiedeln: in der Herzbergstraße 40-43 in Lichtenberg, weit weg von Mitte, will das Paar mit der Sammlung arbeiten und mit Künstlern neue Projekte entwickeln. Für Schicki-Micki-Jünger ist es wohl eher ein „Nachtjackenviertel“. Die ganze endlos lange Straße entlang stehen verlassene, mit Brettern vernagelte, graffiti-besprühte Fabriken, auf den ersten Blick ein Ambiente wie in Detroit.
Aber die Ödnis und der Trash täuschen. Man muss nur hineingehen in die vielen chaotisch-rumpelig aussehenden Industriehöfe: Da haben sich Gewerbe aller Couleur angesiedelt. Und schräg gegenüber quirlt das Leben – Handel und Wandel in „Hanoi-Town“, dem riesigen Vietnam-Markt „Dong Xuan“ mit seinen Läden, Lagern, Restaurants.
Ein großes Tor mit Wachraum
Axel und Barbara Haubrok, 2010 endgültig aus Düsseldorf nach Berlin übergesiedelt, haben für ihr neues Refugium die 2007 bezogenen schicken Ausstellungsräume am Strausberger Platz verlassen, eingetauscht für einen Hof mit Kfz-Werkstätten, Lackiererei, Reifenbuden, Schreiner-, Modellbauer-Gewerken. Ein Handwerker-Paradies.
„Das muss geradezu auf mich gewartet haben“, sagt der bisherige Betreiber einer Kommunikations-Agentur. Und er erzählt, dass er in einer Autoreparaturwerkstatt groß geworden ist, der Vater zunächst wollte, dass auch er ein „Schrauber“ würde, den Sohn dann aber doch Volkswirtschaft studieren ließ.
„Ich wusste ja, dass es solche alten Fabrikhöfe an Berlins östlichen Rändern gibt. Aber der hier ist der Hammer! Genau das eben, was im luxussanierten Zentrum längst verschwunden ist“, schwärmt Haubrok. Und er setzt hinzu, wegen solcher Architektur, wegen der freien Möglichkeiten, darin zu arbeiten, seien doch nach 1990 all die Künstler, die Kreativen von überall her nach Berlin gekommen. Noch verbergen ungenutzte Häuser mit ihren 30er-Jahre-Fassaden, die Fabrikhallen und Garagen ihr Potenzial. 23 Jahre lang ist hier kaum was passiert, niemand hatte einen Plan. „Das alles hier“ – Haubrok beschreibt einen Bogen, „war die Fahrbereitschaft des DDR-Ministerrats!“
Also deshalb zur Straße das Tor mit Wachraum. Dies hier war Hochsicherheitszone seit den Siebzigern bis zum Ende der DDR. Jeder Zentimeter Boden, jeder alte Stuhl oder Tisch, die intakte Kegelbahn und die ebenso gut erhaltene Sauna erzählen ein Stück politischer Geschichte. Jeder Fetzen Ölsockel in den Fluren, die Ornament-Tapeten, das Linoleum, die Lampen und Türgriffe.
Barbara Haubrok und ihr Mann vermessen an diesem eiskalten Januarmorgen mit großen Schritten das erworbene Areal. Sie haben es vor Tagen einem Privatmann abgekauft, der es vorher von der Treuhand hatte, dann aber die Lust verlor. Investor-Begehrlichkeiten halten sich bislang in Grenzen in dieser Gegend. Die nachts verheißungsvoll illuminierte alte Backfabrik, ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt, wurde ebenfalls von privaten Betreibern gekauft. „Lichtenberg wird interessant“, glaubt Haubrok. Bis zum Alex sind es nur sieben Kilometer, seitlich beginnt in fünf Kilometern Marzahn, da gibt es 2017 die Internationale Gartenausstellung. Im nahen Herzberg-Park lebt eine Herde Pommerscher Schafe. Stadt trifft auf Natur.
Die erste Liga der Gegenwartskunst
Der Charme des 18 000 Quadratmeter messenden Industriehofes sei natürlich auch anderen aufgefallen, erzählt der neue Besitzer. „Als Filmkulisse. Hier drehte Regisseur Oliver Ziegenbalg ’Russendisco’, nach dem gleichnamigen Roman Wladimir Kaminers.“
Hinter den Fenstern der Werkstätten sind jetzt die Handwerker bei der Arbeit. In einem Seitenhaus logiert der Lichtenberger Arbeitersamariterbund; ein Stück weiter hat sich ein Modellbauer niedergelassen. So um die 50 kleine Gewerke und Künstler kann Haubrok schon zu seinen festen Mietern zählen. Seine Sammlung und die Künstler, deren Arbeiten er seit 25 Jahren durch Käufe fördert, zählen längst zur ersten Liga der Gegenwartskunst, allerdings einer, die sich Otto Normalverbraucher nicht übers Sofa hängen würde.
Das Paar hat diese Leute für sich entdeckt, gestärkt – und nun sind die Konzeptualisten auf Biennalen, auf der Documenta, in großen Museen vertreten: Christoph Büchel, Elmgreen & Dragset, Gregor Schneider, Tobias Rehberger, Martin Creed, Andreas Slominski, Heimo Zobernig, Jonathan Monk oder Jeppe Hein.
Für sie und ihre Kollegen gibt es noch jede Menge Platz in der „Fahrbereitschaft“ – so will Haubrok das Gelände künftig nennen: „Der Hof mit den vielen großen Kfz- und Bus-Garagen ist attraktiv für Künstler, die ein Studio suchen, weil das alte zu klein oder zu teuer geworden ist.“
Im Keller die Selleriekonserven
Was noch fehle, sei ein kunstliebender Koch, meint Haubrok. Für die Geselligkeit. Täglich essen kann man natürlich gegenüber bei einem der vielen Vietnamesen, aber eine eigene Kantine wäre toll. Küche und Saal des einstigen Restaurants, in dem die DDR-Minister, ihre Fahrer-und Bodyguards, wohl auch die per Stasi handverlesenen Auto-Reparaturdienste ein- und ausgingen, sind gut in Schuss. Und den mit Kreide hinterlassenen Satz an der Tafel fürs Speisenangebot anno 1990 darf man getrost ignorieren. „Honni lebt!“, das glaubt keiner, auch wenn der Raum noch danach aussieht.
Im Keller unterm Saal stehen weder Rotweinflaschen, noch Goldbrand aus Wilthen oder Nordhäuser Doppelkorn. Dafür versperren Kisten mit Kürbis-und Sellerie-Konserven den Weg. Die Ware stammt vom VEB Ogis Gemüseverarbeitung Rüblingen; Herstellerdatum 1989, da kostete das Glas 1,75 Ostmark. Essen wird das Zeug keiner mehr.
Axel Haubrok ist nicht nur begeistert von solchen Funden, vor allem vom 30er-Jahre-Stil der Industriebauten. Alles Funktionalismus: verglaste Hausfronten, unverwüstlicher Graupelputz. Die Dächer sind dicht, nur die Sanitäranlagen und die Fenster sind recht reparaturbedürftig. Er will sich auf die Suche nach der Geschichte des Geländes machen und erzählt von seinen Recherchen. Aber es gibt bislang nur spärliche Auskünfte, schließlich unterlag das Areal seit 1971 der Geheimhaltung. Davor war hier auch schon ein Autohof und seit etwa 1900 wohl eine Likörfabrik. „Nun suchen wir Zeitzeugen, Leute, die hier mal gearbeitet haben“, hofft er auf Geschichten für seine Chronik.
Was keiner vermutet, verbirgt sich hinter grauem Putz in der zweiten Etage des Haupthauses: Die Bar der ministeriellen Fahrbereitschaft. Die Restbestände sind beredt: Holzpaneele, lila Wandbemalung, ein verstimmtes Klavier. Das Parkett braucht eine Kur, die Ornament-Leuchten an der Decke strahlen wie die Lampen im geschleiften Palast der Republik. Die Barhocker sind mit knallrotem Kunstleder bezogen; auch Tische und Sessel haben das Design der Siebziger und ähneln verdammt dem Mobiliar in Mielkes Lichtenberger Stasi-Zentrale.
Treppenweise Reise in die Vergangenheit
Der Gipfel des Designs sind die vom Zigarettenrauch und dem Staub der Jahre tiefgraubraun verfärbten Plauener Spitzengardinen. Diesen Biedermeier wollen die Haubroks ganz sicher entsorgen. Die Reise in die Vergangenheit dauert an, treppauf, treppab. Das Linoleum, die Ölsockel, die Fußböden riechen noch ganz spezifisch, das liegt am Bohnerwachs, an den Reinigungsmitteln. Geruch und Patina eines verschwundenen Staates.
Haubrok zählt auf seine Mieter, die Kleingewerke-, die Gewerbe und die Künstler; er hat sie schon in seine Pläne eingeweiht – und eingebunden. „Die Miete soll niedrig bleiben, fünf bis sechs Euro der Quadratmeter“, versichert er. Ihm schwebt vor, die „Fahrbereitschaft“ könnte eine Art Factory werden. Ein Großlabor für Kunstproduktion mit Handwerkeranschluss. Vielleicht würde ja selbst Andy Warhol, lebte er noch, jetzt ein Wahlberliner werden.
„Man wird uns für verrückt erklären, jetzt, in unserem Alter sowas noch anzufangen“, räumt Barbara Haubrok ein. Aber nur sammeln und ausstellen, das ist auf Dauer zu einförmig. Dieses Tür an Tür von Künstler und Handwerkern, das ist etwas Neues. Ob das Paar jetzt unter Gentrifizierungsverdacht gerät? „Warum?“ fragt Haubrok zurück. Es gehe hier nicht darum, dass alles schick und damit teuer wird. Im Gegenteil. Das ganze Gelände und die Mieterstruktur soll erhalten bleiben. Und was zählt, ist die Originalität. Davon gibt es hier 100 Prozent. Alles ist da. Und wieso muss Fortschritt immer nur materielles Wachstum bedeuten? Kunst ist doch vor allem auch Entwicklung!
Zum Gallery Weekend im April werden die Haubroks erstmals öffentlich einladen auf ihr geschichtsträchtiges Gelände für Kunst und Leben. Auch in die Kegelbahn.