Neukölln-Film: LGBT-Regisseur Rosa von Praunheim wird 75
Die Tür zur Wohnung steht offen. Es ist fast sechs Uhr am Abend, doch aus ihren Tiefen ruft es: „Guten Morgen.“ Ob ich auf dem Thron sitzen wolle, fragt Rosa von Praunheim, sobald er erschienen ist. Es handelt sich um einen schwarzen Ledersessel. „Hinter dir befindet sich eine Python“, sagt er, sobald ich Platz genommen habe. Ich halte es für einen Scherz. Irgendwann drehe ich mich um. Immerhin sitzt die Schlange in einem Terrarium.
Hat er einen derart erschreckt, überschüttet Rosa von Praunheim einen mit Fragen, dabei sollte es umgekehrt sein. Smalltalk ist nicht seine Sache. Es geht unter anderem darum, wie man sich am wirkungsvollsten erschießt, um Partnerschaft und Pubertät, den ersten Sex. Ich beantworte alles mit wehrloser Offenheit, die mich selbst überrascht. Es ist dies eine eindrucksvolle Demonstration von Rosa von Praunheims Kunst, Menschen zum Sprechen zu bringen, die auf seiner aufrichtigen, einfühlsamen Neugierde beruht. Er möchte wirklich wissen, wie die Menschen sich durchs Leben schlagen.
Zwischen Gentrifizierung und Künstlerdasein
Unser Treffpunkt ist seine Wohnung, ein Zimmer, in dem auf einem Sofa drei große braune Gorillas sitzen, und an einer Wand lauter bunte Bilder aus Praunheims Hand hängen. Tief im Westen Berlins liegt sie, in Wilmersdorf, aber sein jüngster Film heißt „Überleben in Neukölln“. Der Titel knüpft an seine Dokumentation „Überleben in New York“ an, die er 1988 über drei deutsche Frauen drehte, die versuchten, es in Big Apple zu schaffen.
Seine Protagonisten in dem Neukölln-Film leben größtenteils schon lange in dem Teil des Bezirks, den die Immobilienmakler seit ein paar Jahren Kreuzkölln nennen. Doch Rosa von Praunheim hat keinen Film über Gentrifizierung gemacht. Sie kommt höchstens in den Gedanken des Zuschauers vor, der sich bange fragt, wie lange sich manche der Porträtierten noch werden halten können in dem trendig gewordenen Viertel. Rosa von Praunheim möchte das nicht kritisieren: „Das Leben verändert sich ständig, das kann man nicht aufhalten“, sagt er.
"Ich bin die schönste Frau von Berlin"
Juwelia, mit bürgerlichem Namen Stefan Stricker, steht im Mittelpunkt des Films. Gelegenheitstransvestit nennt er sich selber. Immer wenn er in seinem überbordend bunt dekorierten Galerie-Studio St.St. in der Sanderstraße auftritt, wird aus Stefan mit roter Langhaarperücke und knappem Abendkleid Juwelia, die die Arme hochreißt und ruft: „Ich bin die schönste Frau von Berlin.“
Dann singt sie mit rauchiger, unbeholfener Stimme ihren Berlin-Song: „Es ist morgens um vier, wir kommen aus dem Club. Du willst noch Bier, orangerot ist die Sonne.“ Ihre Stücke bilden den tollen Soundtrack des ganzen Films. Später erzählt sie, dass sie in Berlin klebengeblieben ist, obwohl sie eigentlich nur Urlaub machen wollte. Das war in den Achtzigern. Dass sie fast ihr Leben lang von Sozialhilfe gelebt hat, weil sie sich in keinem Job halten konnte. Und was ist man dieser Einrichtung dankbar, dass es eine solche Künstlerexistenz ermöglicht. Stefan/Juwelia strahlt bei aller Unsicherheit eine große Würde aus. Man möchte ihr ewig zuhören.
Alle in diesem Film erzählen Geschichten von Liebe, von Lebensfreude und Willenskraft. Da ist Johanna Wilfriede Richter, 1927 in Chemnitz geboren, die nach ihrer Scheidung von Stuttgart nach Berlin zog, da war sie 50, und dort 23 Jahre lang mit einer Frau zusammenlebte. („Wenn ich was will, das zieh ich durch.“) Völlig egal, dass sie sich mit einer Krücke die Treppe hinunterschleppt, man möchte sich von ihrer Lebenskraft eine Scheibe abschneiden.
Da ist der junge Siboney, der mit seinem Vater Joaquin la Habana und dessen Mann zusammenlebt und selbstbewusst in die Kamera sagt, dass er es total wichtig findet, dass sein Vater seine androgyne Seite auslebt, da ist Praunheims Ko-Regisseur Markus Tiarks, der sich in einen jungen Mann verliebt hat und diesem 100 Tage lang ein Foto von sich schickte. Es wurde übrigens trotz dieser Umwerbungsoffensive nichts.
Warmherziges Kiezkaleidoskop
Rosa von Praunheim interessiert sich vor allem für die Subkultur und die Schwulenszene, nicht für die Neuneuköllner Hipster. Aydin Akün kommt vor, der bekannt ist, weil er seine Botschaft von der Benachteiligung der in Deutschland lebenden Türken, die anders als EU-Ausländer bei den Kommunalwahlen nicht mitstimmen dürfen, per Megafon und Trillerpfeife in die Welt bringt. Oder die syrische Sängerin, die von ihrer ersten Lesbenparty in Berlin erzählt, während sie in ihrer Heimat aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in Lebensgefahr war. Der schwule Autor mit dem Bühnennamen Patsy l’Amour la Love berichtet dagegen von Anfeindungen auf der Straße, wenn er nur Nagellack trägt.
Rosa von Praunheim hat ein warmherziges Kiezkaleidoskop geschaffen, gezielt einseitig. Man geht aus dem Kino und ist ihm dankbar, dass er seine Kunst auf all diese Menschen angewandt hat.