Der Autor, Filmemacher, Fernsehproduzent und Rechtswissenschaftler Alexander Kluge, 1932 in Halberstadt geboren, ist mehrfacher Grimme-Preisträger. Bei den westdeutschen Kurzfilmtagen 1962 war Kluge Initiator des „Oberhausener Manifests“, einer politischen Unabhängigkeitserklärung junger Filmemacher. Mit Edgar Reitz gründete er 1963 an der Uni Ulm die Abteilung für Filmgestaltung, im selben Jahr seine eigene Produktionsfirma Kairos-Film. In den seit den 1980er-Jahren aufkommenden Privatsendern strahlte Kluge ab 1988 seine dctp-Kulturmagazinsendung aus. Sein neues Buch heißt „Kongs große Stunde“.
Herr Kluge, können Sie sich noch erinnern, wann und mit welchen Empfindungen Sie erstmals mit Kong in Berührung gekommen sind?
Als Sechsjähriger habe ich im Berliner Zoo einen Gorilla gesehen, und den Film „King Kong“ habe ich mit 18 Jahren gesehen.
Washat das in Ihnen ausgelöst?
Vertrauen. Der Großaffe in meinem Buch ist allerdings kein konkretes Tier, sondern eine Metapher. Es handelt sich um ein übersinnliches Wesen. Viel größer, als Gorillas in Wirklichkeit sind. Er steht auf dem Empire State Building und verteidigt das Liebste, was er hat, die junge Frau. Bevor er mit den Flugzeugen den Kampf aufnimmt (im letzten Film tut er das auf den Twin Towers), stellt er die Frau in einer sicheren Ecke auf dem Sims des Hochhauses ab. Das hat etwas sehr Verlässliches. Das Tier ist ja wild, undressierbar. Es ist ein Symbol für eine Kraft, die auch wir innerlich besitzen.
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Auf Chronik der Gefühle folgt Chronik des Zusammenhangs
Mensch und Menschenaffe sind Seelenverwandte?
Vermutlich weil wir als homo sapiens über mehr Verschlagenheit verfügten, sind wir vor einigen Millionen Jahren an den Affen vorbeigezogen. Noch immer gehören wir zur Klasse der „Trockennasenaffen“. Verwandt sind wir also gewiss. Die Großaffen ziehen ihre Kinder fünf Jahre lang an der Mutterbrust auf. Mein Gefährte Oskar Negt hat neulich im Wiener Zoo einen Gorilla besucht. Der drehte dem Publikum den Rücken zu. Und Oskar, als geduldiger Ostpreuße, hat den ganzen Nachmittag gewartet. Doch bis der Zoo schloss, hatte sich der Gorilla nicht zu ihm umgedreht. Das nenne ich Gelassenheit.
Bewundernswert?
Ich stelle mir immer vor, dass nicht wir an diesen großartigen Wesen, die zu 92 Prozent die gleiche DNA wie wir haben, vorbeigezogen, sondern dass die an uns vorbeigezogen wären. Dann säßen wir im Zoo. Neulich wurde ich von jemandem gefragt, ob dies nicht angesichts der Syrienkrise die bessere Lösung gewesen wäre.
Was hat Sie motiviert, das Buch nach Kong zu benennen?
Das Buch hat einen Untertitel: „Chronik des Zusammenhangs“. Ich habe im Jahr 2000 die „Chronik der Gefühle“ geschrieben. Und das ist nun die Ergänzung. Es gibt in der Gegenwart relativ wenig Tröstendes zu berichten. Zwar wurde in der Atom-Frage mit dem Iran im Jahr 2015 ein Kompromiss gefunden, und auch der positive Anfang auf der Klima-Konferenz im Dezember in Paris hat mich überrascht. Aber wenn Sie diese mageren Lichtpunkte mit den massiven „eingefrorenen“ und den „heißen“ Konflikten, den Minenfeldern auf dem Erdball, vergleichen, leben wir in einer riskanten Welt. Ich hatte das Bedürfnis, in dem Chaos eine Stelle zu finden, an der man Poetik positiv betreiben kann.
„Die Welt besteht aus Extremen“
Was bedeutet das – wo finden Sie eine solche Stelle?
Da muss ich weit zurückgehen. In die Evolution oder zum Beispiel nach Pangäa, dem letzten globalen Riesenkontinent der Erdgeschichte, der vor mehr als 150 Millionen Jahren existierte. Unsere Vorfahren sahen damals anders aus. Aber vieles von ihnen tragen wir in unseren Körpern und im Kopf umher. Bei einer Dinosaurierart, von der wir vermutlich abstammen, entstand neben dem Maul eine kleine Scheune, in dem der Koloss Gras lagern konnte. Das war der Ursprung der menschlichen Wange. Es berührt mich, dass Lenin im Jahre 1917 verliebt auf die hohen Wangen einer Volkskommissarin starrte. Er dachte, der Klassengegner hätte die junge Frau auf ihn angesetzt, um ihn zu verführen. In diesem Moment fiel ihm auf, dass er zum Verfolgungswahn neigte: Eine Einsicht. Eine Massenproduktion von solcher Erkenntnis hätte der russischen Revolution eventuell einen anderen Verlauf gegeben. Zwischen der Entstehung der Wange in der Evolution und einer Momentaufnahme in der Revolution gibt es einen langen Bogen.
Diese Zusammenhänge spüren Sie in lauter kleinen Geschichten auf. Wieso bevorzugen Sie die episodische Erzählstruktur?
Es ist viel zu erzählen. Man muss sich kurz fassen. Lebensläufe finden in der Mikrostruktur statt. Der Ort, an dem mein Vater seinen Oberschenkelhals brach, umfasst nicht mehr als einen Quadratmeter. Es geschah in einer Sekunde. Das Genaue, und nicht das Allgemeine, das Regionale und nicht das Globale, das lässt sich am besten erzählen. Wenn man im Teilchenbeschleuniger des Cern in Genf das Allerkleinste studiert, gelangt man bis zu den fernsten Gravitationswellen im Kosmos. Das ist poetisches Futter.
Von den kleinsten zu den größten Fragen?
Die hängen eben miteinander zusammen. Das meiste Reale in der Welt besteht aus Extremen – Mittelwerte entstehen erst im Computer. Ich habe einmal einen Film mit dem Titel gemacht „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“. Das meine ich ernst. Natürlich könnte ich einzelne Geschichten auf 100 Seiten ausweiten, doch dadurch würde alles andere, was damit auch in Beziehung steht, unterdrückt. Aus Demut vor dem Ganzen wende ich mich dem Einzelnen zu.
Dass unsere Welt niemals stillsteht – beunruhigt Sie das?
Dass wir als Menschen so alt und kompliziert sind, dass unser Darmtrakt reagiert, wenn wir uns Sorgen machen, das ist ein Anker. Das Erzählen macht solche Anker sichtbar. Trotz Aggression, Niedertracht, kriegerischem Geist, haben wir Menschen uns bis heute nicht gegenseitig ausgelöscht. Die Verlässlichen und Kooperativen, die trotzdem ihre Träume haben – sie bilden die Mehrheit unter uns.