NS-Raubkunst: Über eine Milliarde in Bildern
Wieder einmal pestet uns Hitlers Tausendjähriges Reich aus der Gruft der Geschichte an. Und kein Kunstkrimi des öffentlich-rechtlichen Fernsehens reicht bislang heran an diese unglaubliche, perfide, und in ihren letzten Zügen zugleich auch banale Geschichte – von einem ungeheuerlichen Münchener Fund, dessen Hintergrund das Magazin Focus soeben der Welt präsentiert. Als geretteten Riesenschatz, geschätzter Wert: mehr als eine Milliarde Euro.
Und dies ist nun auch gleich noch die Sensation zur Sensation: Die spektakuläre Entdeckung nämlich liegt schon zwei Jahre zurück. Zoll, Polizei und Justiz, Politik und die forschenden Kunstwissenschaftler jedoch hielten bis dato die Causa Gurlitt – denn um diese namhafte Kunsthändler-Person um 1938 und deren ebenso dubios agierenden Erben, dem derzeit lediglich der Vorwurf der Steuerhinterziehung droht, dreht sich nun alles – unter Verschluss. So gar nichts drang durch, keiner sagt auch nur einen Piep, und das ist kaum zu glauben in der heutigen Medienwelt.
In einem neusachlichen 60er-Jahre-Appartementhaus in München-Schwabingen, in der total vermüllten und kunst-klimatechnisch nur als Katastrophe zu bezeichnenden Wohnung eines greisen, für seine Nachbarn nahezu unsichtbaren Herrn namens Cornelius Gurlitt, lagerten seit Jahrzehnten 1500 während der Nazi-Aktion „Entartete Kunst“ verschollene Kunstwerke.
Gemälde, Zeichnungen, Grafiken der heute so extrem teuren Klassischen Moderne, vornehmlich von Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee, Max Beckmann, Ernst Barlach, Henri Matisse, Emil Nolde, Ludwig Kirchner, Max Liebermann, Otto Dix, Edvard Munch, Oskar Kokoschka, Käthe Kollwitz.
Diffamiert, zerstört, verhökert
Alles von diesem seit 2011 beim bayerischen Zoll deponierten Bilderberg wurde nachweislich seit 1937 von den Nazis in Museen, Privatkollektionen, aus Ateliers beschlagnahmt, von jüdischen Sammlern geraubt, als „entartete Kunst“ diffamiert, vernichtet – verhökert.
Und es gab Kenner unter Kunsthändlern, die sich für diesen Bütteldienst gut gebrauchen ließen. Etwa der einst angesehene Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895-1956), Cornelius Gurlitts Vater und nach dem Krieg von der US-amerikanischen Besatzungsbehörde als Nazi-Opfer anerkannt. Denn man hatte ihn nach 1933 wegen seiner Moderne-Affinität als Museumsdirektor in Zwickau geschasst.
Später freilich wechselte Hildebrand Gurlitt die Seiten, ließ sich als dabei gut verdienender Händler diffamierter Kunstware korrumpieren. Goebbels war sein direkter Auftraggeber. Gurlitt hatte die beschlagnahmten und geraubten, in München auf einer regelrechten Schandschau „in den Augen des deutschen Kulturvolkes“ verunglimpften Kunstwerke gewinnbringend zu verticken. Zudem kaufte er verzweifelten jüdischen Sammlern, die dringend Geld für die Emigration brauchten, im großen Stile Werke der Weltkunst ab, die sich Hitler für seine persönliches „Führermuseum“ in Linz wünschte.
Hildebrand Gurlitt wurde gar zum „Chefeinkäufer“ des bizarren Projekts. Und nebenbei sicherte er sich den einen und anderen Schatz aus der Kunstgeschichte, vor allem aus der nunmehr – gegenüber seinen Auftraggebern – nur noch ganz insgeheim geliebten Vorkriegsmoderne, mit Kubisten, Expressionisten, Veristen, Realisten. Was er für sich zusammengekauft und über den Krieg hinaus versteckt hatte, gaben er und seine Familie gegenüber den Alliierten und späteren Kunstfahndern als beim Bombenangriff am 13. Februar 1945 auf Dresden vollständig verbrannt an. Fortan blieben er und sein Sohn unbehelligt, obwohl, wie sich herausstellt, 200 Werke aus dem Schwabinger Wohnungsfund auf internationalen Suchlisten stehen und mindestens 300 weitere sich als verschollene Bilder aus der Aktion „Entartete Kunst“ belegen lassen, was unbedingte Restitution verlangt.
Zur Razzia des Bayerischen Zolls bei dem damals 77-jährigen Gurlitt-Sohn war es dann vor zwei Jahren gekommen, weil skeptische Beamte besagten Herrn schon 2010 im Zug von Zürich nach München mit unerklärlich viel Bargeld erwischt und daraufhin festgestellt hatten, dass der alte Mann in München gar nicht nicht gemeldet war. Nun stellt sich heraus, dass er seit Jahren Bilder aus dem ominösen Fundus seines Vaters in der Schweiz zu Geld machte, auch das renommierte Kölner Kunsthaus Lempertz sich mit dem Verkauf eines verschollenen, nicht provenienzgeprüften Beckmann-Bildes mitschuldig gemacht hat.
Eine paradoxe Figur
Gurlitt Senior, Retter oder Raffke? Aus der Distanz gesehen und mit Blick auf jenen Bilderfund, der nun schwer bewacht im Garchinger Zolldepot lagert und nach allen Regeln der Kunst erforscht werden muss, war Gurlitt wohl ein geradezu paradoxe Figur: inniglicher Liebhaber und Kenner der von Hitler & Co abgrundtief gehassten Vorkriegsmoderne. Und hernach ein verschlagener, ruchlos auf den eigenen Vorteil bedachter Händler, der die Notlage verfolgter Künstler und jüdischer Kollegen, nachweislich die des Leipziger Verlegers Henri Hinrichsen, des Händlers Alfred Flechtheim und des Pariser Matisse-Händlers Paul Rosenberg ausnutzte.
Was für eine Opfer-Täter-Karriere: So wurde ein einst von den „Völkischen“ abgestrafter, weil glühender Verfechter der europäischen Avantgarde zum Handlanger der Nazis. Und so gar nichts davon hat sein Sohn wiedergutgemacht.