Ostergeschichte von Alexander Osang: Vom arbeitslosen Lektor zum Hoffnungsträger der Nation

Lehmann hatte die Kiste mit seinen persönlichen Sachen unterm Arm und wartete in der sechsten Etage des Verlagsgebäudes auf den Fahrstuhl nach unten. In der Kiste befanden sich ein Büchlein, das seine Kollegen zum 50. Geburtstag für ihn gedruckt hatten und die vier alten Notizhefte, in denen er Ideen für drei eigene Sachbücher zusammengetragen hatte, die er − wie er inzwischen wusste − nie schreiben würde, sowie ein paar Gedanken für einen Roman, der im Verlagswesen spielte.

Außerdem befand sich im Karton eine halbleere Schachtel Mentholzigaretten, die Helmut Schmidt einst an ihrem Messestand hatte liegen lassen sowie eine Flasche Jahrgangschampagner, die ihm der Alte, wie sie den Verleger genannt hatten, geschickt hatte, nachdem Lehmann den Deal mit dem amerikanischen Abenteuerjournalisten Johnson eingefädelt hatte, dessen berühmtester Coup die Reportage über eine dreiwöchige Zeltreise mit Muammar Gaddafi gewesen war. Der Coup lag zehn Jahre zurück, der Champagner war aus dem Jahr 1982. Man könnte so eine Flasche heute für 500 Euro verkaufen, hatte Lehmann recherchiert, allerdings hätte sie dafür vorschriftsmäßig gelagert sein müssen, kühl, liegend und dunkel. Bei Lehmann hatte sie im Licht gestanden, sie war der größte Pokal seines Lebens.

Johnson war beim Drachenfliegen verunglückt, in Arizona, der Alte war nicht mehr aus dem Mittagsschlaf aufgewacht, in Dahlem. Beide Todesfälle lagen etwa fünf Jahre zurück. In diesen fünf Jahren hatte Lehmann, der Philosophie und Skandinavistik studiert hatte, noch zwei Titel in die Sachbuchbestsellerlisten gebracht, einen Ratgeber für glutenfreie Ernährung, geschrieben von einem ehemaligen Koch des Tennisspielers Novak Djokovic (Platz siebzehn), und die Biografie des manisch-depressiven Gewinners einer deutschen Castingshow (Platz acht).

Es war zu wenig gewesen.

Lehmann sah auf das Verlagslogo an der Wand, mehr als zwanzig Jahre hatte er es auf seinen Visitenkarten gehabt. Zwei Berliner Bären, die einen Stoß Bücher zusammenhielten. Lehmann hatte sich mit den Autoren rechter beziehungsweise linker Kampfschriften zum Zustand in Deutschland getroffen, er fand, dass alle irgendwie recht hatten, aber immer etwas zu spät dran waren. Wie er. Irgendjemand war immer schon da gewesen, was auch daran lag, dass Lehmann die Projekte nicht mit mehr Herzblut anging. Er wollte vor allem keine Fehler machen. Richtig liegen. Nie ein gutes Zeichen. Er wusste das, er wusste es ja.

Aber er hatte irgendwie die Spannung verloren, den „Grip“, wie Schmidt-Peters es nannte. Es passierte so viel dort draußen in der realen Welt, der Sachbuchwelt und gleichzeitig so wenig. Deutschland löste sich auf, die Verdauung und das Glück waren wichtig, die Araber, die Russen und die Amerikaner kamen und der deutsche Wald rauschte geheimnisvoll. Das war’s doch im Wesentlichen.

Klemens Schmidt-Peters, der den Verlag übernommen hatte, nachdem der Alte gestorben war, rief ihn immer mal in sein Büro und machte ihn auf Trends aufmerksam, freundlich, aber drängend. Auf den letzten beiden Vertreterkonferenzen hatte er ihm vor allen erklärt, wo die Reise hinging, unmittelbar nachdem Lehmann seine Vorschläge für die neuen Verlagsprogramme präsentiert hatte. Die Lebenserinnerungen eines alten Russlandkorrespondenten, die junge Türkin aus Wattenscheid, die versuchte, sich aus den Familienstrukturen zu befreien, die krebskranke Serienschauspielerin, der deutsche Wald, der deutsche Darm, der deutsche Islamfreund. Wo haben Sie denn in den letzten Jahren gelebt, Lehmann?“, hatte Schmidt-Peters gerufen.

„Hier“, sagte Lehmann.