Pianist Menahem Pressler: Zart, noch zarter, lichtes Dämmern in Cis-Dur
Niemand, der die Altersgrenze von sechs Jahren überschritten hat, kann ohne Zuhilfenahme von Stimmungsaufhellern so frohgemut in die Welt gucken und gehen wie Menahem Pressler. Als der Pianist am Freitagabend − mit eben diesem Blick und Gang − den Saal der Philharmonie betrat, wurde die Winternacht zum Sommertag, und schon der Auftrittsapplaus des Publikums dauerte so lange wie bei manchen Künstlern der Schlussapplaus. Einige Gäste erhoben sich sogar von ihren Plätzen. Das war dem Anlass durchaus angemessen, denn Pressler − mehr als ein halbes Jahrhundert lang der Pianist des Beaux Arts Trios, ein Kammermusiker, den die größten Virtuosen seiner Zunft bewundert haben − gab bei den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Semjon Bytschkow sein Debüt als Solist. Am 16. Dezember ist er neunzig Jahre alt geworden.
Das Konzert in G-Dur KV 453, von Wolfgang Amadeus Mozart Anfang April 1784 komponiert, war dabei eine glückliche Wahl, weil es Presslers besonderer Begabung und Biografie so entgegenkommt. Es ist ja gar kein Konzert für Klavier und Orchester, sondern ein Konzert für Flöte, Oboe, Horn, Fagott, Klavier und Streicher. Was Mozart kompositorisch nur kurz zuvor, im Quintett für Bläser und Klavier Es-Dur KV 452, erprobt hatte, das übertrug er hier von der Kammermusik aufs Konzert: Das Klavier sucht den Nahkontakt zu den Bläsern, die wie Figuren in einem Opernensemble miteinander umgehen.
Als Pierre-Laurent Aimard dieses herrliche Stück vor wenigen Monaten beim Musikfest Berlin aufführte, hatte er den kammermusikalischen Charakter missverstanden, indem er sich selbst bis zur Unkenntlichkeit zurücknahm. Aber dieses Konzert verlangt nicht, dass der Pianist sich zurücknimmt, sondern dass er sich einlässt: indem er das ganze Gewicht seiner Person ins Spiel bringt. Nur als starke musikalische Figur kann er das Ensemble beleben. Und so spielte Pressler mit einem einzigartigen Ton, der ebenso voll war, wie er intim blieb − immer in dichtem Anschluss ans Orchester, das unter Bytschkow eine singende Lebhaftigkeit entwickelte, die nichts mit äußerem Tempo zu tun hatte.
Am stärksten in Erinnerung bleiben wohl Presslers Triller an den Phrasen-Enden, die jeweils in einen ganz leisen Schlusston mündeten: mal drollig wie bei einem Strolch, dem es gelungen war, der eigenen Mutter die Streusel vom noch ungebackenen Kuchen zu mopsen, mal melancholisch wie bei einem Kammerherrn, der nachts einen letzten Gang durchs Schloss macht und die Kerzen löscht. Und so verabschiedete sich Pressler in der Zugabe mit dem Nocturne cis-Moll von Frédéric Chopin: immer leiser, zart, noch zarter, dreifaches Pianissimo, Dämmerung in lichtem Cis-Dur.
Mit dieser überlegenen Heiterkeit konnte Pressler hervorragend bestehen gegen die Kolossaltragödie der elften Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch. Das einstündige Stück nahm 1957 das Massaker vom Sankt Petersburger Blutsonntag am 9. Januar 1905 zum Ausgangspunkt für ein Nachdenken über das Leben in einem Land, wo Staatsgewalt meist seelische wie körperliche Misshandlung der Bürger bedeutete; und die spannungsreiche, auf innere Anteilnahme zielende Aufführung unter Bytschkow löste unter den Hörern eine so lautstarke Zustimmung aus, dass man sie als Demonstration werten kann, Bytschkow solle hier öfter zu erleben sein.
Am Sonnabend folgte auf dieses überwältigende Programm um 22.30 Uhr noch ein Late-Night-Konzert, bei dem Simon Rattle am Klavier die Sopranistin Laura Aikin in den „Chansons madécasses“ begleitete und die Cellistin Solène Kermarrec im sportlichen Lederleibchen die „Trois Strophes sur les nom de Sacher“ des kürzlich verstorbenen Henri Dutilleux spielte. Bei den „Quatre Poèmes hindous“ von Maurice Delage ließen sich die zahlreich erschienenen, ungezwungen-konzentrierten Nachtschwärmer von Aikins Gesang verzaubern wie vom blauen Vogel orientalischer Märchen. Für den brillanten Ulk im „Divertissment“ von Jacques Ibert ernteten die Berliner Philharmoniker hoch verdient viele Spontan-Lacher und mehrfachen Zwischenapplaus.
Öffentlicher Meisterkurs mit Menahem Pressler am 13. und 14. Januar von 10−13 Uhr in der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, Schlossplatz 7.