Post: Das Aussterben der Liebe im Briefverkehr
Nur wenige finden mich noch lieb. Schön ist das nicht. Früher bekam ich viele Briefe, die begannen mit diesem vertraulichen Wort „Lieber!“ Lieber Herr Jähner. Selbst heikle Post begann mit „Lieber“. Die Frau von der Sparkasse, bei der mal wieder das Konto überzogen war, der Besitzer der Autowerkstatt, der das falsche Öl eingefüllt hatte, die Hotelverwalterin, bei der ich zu spät das Zimmer stornierte, sie alle schrieben an den lieben Herrn Jähner, wenn ihnen das „sehr geehrter“ zu distanziert erschien.
Heute, wo fast nur noch Mails, kaum noch richtige Briefe ankommen – so echte, bei Wind und Wetter ausgetragene Post –, werde ich selten geliebt, geschweige denn geehrt. „Hallo Herr Jähner!“, heißt es dafür immer häufiger. Oder gar Ahoi. Selbst in Geschäftsbeziehungen der ganz anonymen Art dominiert das plumpe Hallo: „Hallo Herr Jähner, nach unserem gestrigen Gespräch kann ich Ihnen heute folgende Särge anbieten“.
Woran liegt das Aussterben der Liebe im Briefverkehr? Es ist doch eigenartig, dass Menschen sich zwar die Mühe machen, eigens an einen schreiben, dann aber mit ihrem flotten Hallo so tun, als hätten sie einen zufällig im Internet getroffen: Hallo! Sie auch hier!? Ich mag das nicht. Ich will wieder lieb sein in anderen Augen. Zumindest möchte ich, dass die anderen wünschten, ich wäre lieb, und deshalb an den lieben Herrn Jähner schrieben, um ihn schon mal sanft zu stimmen, bevor sie im Fortgang des Briefes zur Sache kommen.
Denn darum ging es ja: In der inzwischen offenbar albern erscheinenden Sitte, alle Welt eine liebe zu nennen, steckte nicht die naive Vorstellung einer allseits liebreizenden Wirklichkeit, sondern der Wunsch, sie möge sich genauso entwickeln, wie wir es uns erhoffen. So einsichtig. So nachgiebig. So lieb und liebenswert. Dass sich die Aussicht auf eine bessere Welt in einer Anrede lebendig hält, ist unser fortschrittsskeptischen Gegenwart hingegen völlig fremd. Unser Möglichkeitssinn ist ermüdet; die Fähigkeit, so zu tun, als ob, erscheint in einer naiv auf Echtheit und Natürlichkeit fixierten Kommunikation als verlogen.
Zu intim?
Heute, wo einen jeder in E-Mails mit „Hallo“ anredet, kommt man ins Grübeln, wie man darauf antworten soll. Stur weitermachen mit „lieber“? Oder ist das vielleicht doch zu intim für jemanden, der alles Liebe in Zusammenhang mit dem Adressaten lieber vermeidet? Vielleicht hält der einen dann für schwul. Oder glaubt, ich wolle ihn mit dieser plumpen Vertraulichkeit verzwergen. Einseifen und übertölpeln. So wächst die Unsicherheit im Gebrauch der einst fast gedankenlos verwendeten Anredeformel, und die Vermeidung der Liebe schreitet unaufhörlich voran.
Natürlich gibt es Gründe für dieses epidemische „Hallo“. Je schneller und unkomplizierter wir miteinander kommunizieren, umso mehr wächst neben der Freude auch das Unbehagen an der Intimität. Das Internet hält uns unablässig in Kontakt und braucht gerade deshalb neue Formen der Unverbindlichkeit. Bloß nicht alles persönlich zu nehmen, ist wichtig in einer Sphäre permanenter Behelligung.
Die Überforderung, die das Netz darstellt hinsichtlich der ständigen Missachtung von Distanzräumen, wird in den Diskussionsforen deutlich. Kaum ist ein Thread aufgemacht, also ein neues Thema eröffnet, dauert es nicht lange, bis einer der Teilnehmer herumpöbelt wie volltrunken. Ob dabei über Automotoren, Theaterinszenierungen oder Haustierprobleme diskutiert wird, binnen kürzester Frist wird die Sache beleidigend.
Ein ganz harmloses Beispiel: Auch auf gutefrage.net wird darüber diskutiert, was von diesem grassierendem „Hallo“ in E-Mails zu bewerten ist. Eine Unbekannte namens „Baiana“ antwortet einer gewissen „sonstewer“, die sich über ein solches „Hallo“ in der Mail eines Geschäftspartners beschwert hat, und nimmt kein Blatt vor den Mund: „Die Respektlosigkeit findet nicht in seinen Mails statt, sondern ganz allein in Deinem Kopf. Du bastelst sie Dir zusammen und steigerst Dich immer weiter rein.“ Und „sonstewer“ antwortet: „Ich finde Deine Antwort ziemlich übergriffig und abwertend. Unprofessionell, unpersönlich und ebenso respektlos ist allein Deine Antwort.“
Angriffslust und Verletzbarkeit
Man sieht geradezu die pikierte Miene vor sich, mit der das in die Tastatur gehackt wird – aus der Anonymität des kommunikativen Raumes hat sich eine Angriffslust und Verletzbarkeit entwickelt, die man sich im realen Gegenüber-Sitzen einander Unbekannter niemals leisten würde. Mein damals 13-jähriger Sohn erhielt bei seinem ersten Versuch, in einem solchen Forum Rat zu bekommen (es ging um eine technische Frage bei einem Computerproblem), die lapidare Antwort: „Taste Altgr und ß zusammen drücken, du Gaskopf!“ Für die Formel „lieber“ besteht da in der Tat kein Anlass.
In den sozialen Netzwerken wie Facebook ist das „lieber“ ohnehin unpassend, weil man sich in der Regel ja an einen und alle „Freunde“ zugleich wendet. Die Kunst, dort agil zu bleiben, basiert auf der Fähigkeit, originell und dabei völlig unverfänglich aufzutreten. Alles Formelle muss genauso vermieden werden, wie alles wirklich Intime und Ehrliche. Dieser Einbruch des Smalltalks in die Schriftkultur hat Folgen. Was an Spontanität gewonnen wird, wird mit Vorsicht bezahlt. Die Liebe muss dran glauben, und sei’s nur in der Anredeformel.
Wo immer virtuosere Arbeit am Schein der Authentizität gefragt ist, wirkt eine Anrede, die zugleich sehr formelhaft ist und doch mit dem Kostbarsten, der Liebe, nicht geizt, irgendwie unpassend. Uncool und sogar ein bisschen unheimlich. Schön wäre es, dem Zeitgeist zu trotzen und die Anrede trotzdem zu gebrauchen, selbst in manchem Streit. Sie besagt ja nichts außer der Annahme, dass der Adressat aus irgendeiner Perspektive ein lieber ist. Sein muss.