Redakteur der Berliner Zeitung: „Das Gendern sexualisiert die Sprache“
Unser Schlussredakteur Ingo Meyer ist für den Theodor-Wolff-Preis nominiert – für einen Text, der tief in die Grammatik schaut. Ein Interview.

Der Essay „Das Märchen vom Gendersterntaler“ von Ingo Meyer erschien vor einem Jahr in der Berliner Zeitung am Wochenende. Er wurde zuerst für den Reporterpreis und nun auch für den Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie „Meinung“ nominiert. Unser Redakteur hat diesen Preis nun gewonnen. Wir veröffentlichen nochmals das Gespräch, das wir vor der Preisverleihung mit ihm geführt haben.
Lesen Sie hier den nominierten Essay von Ingo Meyer „Das Märchen vom Gendersterntaler“
Berliner Zeitung: Ingo, wie lange hast du an deinem Essay gearbeitet?
Ingo Meyer: Brutto sicherlich ein halbes Jahr. In den Text ist viel eingeflossen, was ich an Material in der Zeit zusammengetragen hatte. Die eigentliche Arbeit am Text dauerte mehrere Wochen.
Du arbeitest im Korrektorat der Berliner Zeitung. Hat dich dein Job dazu motiviert, dich mit Gendersprache auseinanderzusetzen?
Auf jeden Fall. Ich bin ja tagtäglich damit konfrontiert und habe die Veränderung in den Schreibweisen sehr schnell und sehr deutlich wahrgenommen. Vor allem eine problematische Seite dieser Sprache wurde mir sofort klar. Wenn ein Text etwa als Quelle die „Mitarbeiter*innen der Pressestelle“ angibt: Ist es sachlich richtig, dass die soeben genannte Personengruppe aus Männern, Frauen und nichtbinären Menschen besteht? Wenn ich mit Stern oder anderen Symbolen den Fokus auf die Geschlechter lege, wie kann ich da verifizieren, dass das, was ich behaupte, stimmt? Eine geschlechtslose, generische Form enthebt mich solcher Nachforschungen.

Was denkst du über die Behauptung, dass unsere Sprache ungerecht und patriarchal sei?
Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass ausgerechnet die deutsche Sprache unter den vielen Sprachen auf der Erde ungerecht sei. Wenn Sprache und Gerechtigkeit korrelieren würden, müsste in der Türkei oder in arabischen Ländern eine hohe Geschlechtergerechtigkeit herrschen, weil die Sprachen in diesen Regionen sehr „geschlechtergerecht“ sind. Isländisch hingegen wäre eine höchst „ungerechte“ Sprache, Island hat aber einen sehr hohen Index, was Gleichberechtigung betrifft. Das irritiert mich an dem ganzen Denkprozess: Es herrscht bei den Befürwortern der Gendersprache eine Art magische Vorstellung, dass man die Sprache ändert und, voilà, die Gesellschaft wird besser. Ich denke, eine Gesellschaft wird besser, wenn man die Gesellschaft ändert. Und das lässt sich nicht auf der sprachlichen Überholspur herbeizaubern. Außerdem muss man beachten: Wenn man diese Sprache übertreibt, verprellt man ganz viele Menschen, die für Gerechtigkeit sind, die aber sprachlich beim Gendern nicht mitmachen wollen.
Findest du, dass die Befürworter gendergerechter Sprache ideologisch argumentieren?
Teilweise schon. Da kommt viel aus der Identitätspolitik. Die Befürworter argumentieren vor allem aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit, weniger aus der sprachlichen Realität heraus. Ich halte Sprache für unschuldig, so wie ein Fenster unschuldig daran ist, wenn jemand hindurchfällt. Schuldig macht sich, wer ihr Begriffsinventar stigmatisierend einsetzt, Menschen oder ihre Bedürfnisse auf- oder abwertet.
Viele Medienvertreter sind für Gendersprache, viele Menschen auf der Straße und aus dem Alltagsleben hingegen stehen ihr kritisch gegenüber. Wie kommt diese Diskrepanz zustande?
Ich denke, dass der Diskurs von einer akademischen und medialen Blase geprägt wird. Viele Menschen außerhalb dieser Blase spüren, dass das Gendern nichts mit ihrem Alltag zu tun hat. Wenn ich durch meinen Kiez gehe, zu meiner Hausärztin oder zu meinem Bäcker, dann höre ich diese Sprache überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass Gendersprache sich in der Bevölkerung durchsetzt, dafür ist sie zu kompliziert. Sprache tendiert immer zum Simplen, zur Effizienz. Die Gendersprache ist das Gegenteil davon. Sie wird scheitern, nicht weil die Leute inhaltlich dagegen sind, sondern weil es ungemein schwierig ist, fröhlich vom Wochenende zu erzählen, wenn man sauber unterscheiden muss, habe ich meine Freunde, meine Freund*innen oder meine Freundinnen getroffen.
Ist das dein Hauptargument? Dass diese Sprache unpraktikabel ist?
Das wäre mein zweites Argument. Mein Hauptargument ist, dass dieses permanente Markieren im Grunde ein Ausschlussverfahren ist, das den Denkraum verkleinert. Wenn ich „die Afrikaner“ sage, dann kann ich alle Vorstellungen reinpacken, die ich habe. Wenn ich Afrikaner und Afrikanerinnen oder Afrikaner*innen sage, konzentriere ich mich auf das Geschlecht dieser Menschen. Alle anderen Eigenschaften, die diese Menschen sonst noch haben oder haben könnten, werden überdeckt durch diesen Fokus aufs Geschlechtliche. Die Sprache wird sexualisiert.
Und der zweite Aspekt, den du kritisierst, ist der sprachästhetische?
Genau. Die Sprache klingt bürokratisch und ermüdet. 40 Gendersterne in einem Text liefern mir vierzigmal dieselbe Information, nämlich dass die Menschen mehrere Geschlechter haben. Gendersprache ist übrigens gar nicht sensibel, wenn sie permanent das Geschlecht herausstellt. Für mich ist es sensibel, die Dinge zu verhüllen, die nicht ungefragt ans Licht sollen. Wir sitzen hier ja auch nicht ohne Unterhosen im Raum.
Wie waren die Reaktionen auf deinen Text?
Die Leserzuschriften, mehr als hundert, waren eindeutig. Die Leser, darunter viele weibliche, haben mir zugestimmt und stellenweise auf Knien gebeten, dass wir die Gendersprache bei der Berliner Zeitung nicht einführen. Ich kann das gut verstehen. Sie wollen keine Kunstrede mit Beamt*innen, Auszubildenden, Gäst*innen, Personen, die unterrichten und in Freund*innenschaft verbundenen Künstlerinnen und Künstlern. Sie möchten etwas über Beamte, Lehrlinge, Gäste, Lehrer und in Freundschaft verbundene Künstler erfahren.
Wenn du im Gespräch bist mit Kollegen, die gendern wollen, wie ist dann die Diskussion? Kann man zueinander finden?
Es gab natürlich Gespräche, die aber selten tief und lang genug waren, um bis zum Kern vorzudringen. Interessant fand ich, was ein Kollege mir schrieb. Es gehe den Genderbefürwortern nicht um eine Sprechweise, die logisch Sinn ergäbe, sondern um eine Irritation in der Sprache, weil wir „die Vielgestaltigkeit geschlechtlicher Variation im Sprechen und Schreiben oft nicht mitdenken.“ Das konnte ich sehr gut nachvollziehen, und es hat mir geholfen, das alles zu verstehen. Ich bin aber an zwei Stellen hängengeblieben. Genderfreudigen Menschen scheint klar zu sein, dass ihre Sprache logisch oft hinkt, und das nehmen sie in Kauf. Ich als Journalist, zumal als Schlussredakteur, kann das aber nicht akzeptieren. Und der zweite Punkt: Es geht ihnen um Irritation in der Sprache, sie wollen auf etwas aufmerksam machen. Ich finde aber, Journalismus soll nicht irritieren, sondern verständliche Texte abliefern, in denen der Fokus auf dem Thema liegt.
Du bist jetzt für einen der wichtigsten journalistischen Preise Deutschlands nominiert, als Schlussredakteur der Berliner Zeitung. Wie fühlst du dich damit?
Ich freue mich natürlich total, ich hatte nicht wirklich damit gerechnet. Ich dachte mir, dass in der Jury bestimmt Menschen sitzen, die Gendersprache befürworten. Anscheinend hatten sie aber die Größe, meinen kontroversen Text trotzdem zu nominieren. Das gibt mir Hoffnung, dass unsere Gesellschaft ein Widersprechen akzeptiert, aushält und vielleicht ja sogar belohnt.
Heute Abend wissen wir mehr. Herzlichen Glückwunsch zur Nominierung und toi toi toi!
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Der Theodor-Wolff-Preis wurde am Mittwoch, den 22. Juni 2022, in Berlin vergeben.