Retrospektive Barbara Klemm: "Endlich mal eine Frau"
Frankfurt/Main - Ihr vielleicht bekanntestes Bild ist ganz vorn im Ausstellungskatalog, man schlägt ihn auf und da ist Willy Brandt, das Kinn in die Hand gestützt, das Jackett etwas über den Hosenbund gerutscht, der Blick konzentriert. Links von ihm sitzt Leonid Breschnew, eine Zigarette in der Hand, daneben sein Dolmetscher. Die drei bilden das Zentrum einer Männergruppe, deren Körpersprache gespannte Aufmerksamkeit verrät: jeder einzelne gleichzeitig nach vorn gebeugt und Distanz wahrend, um den beiden Protagonisten des diplomatisch heiklen Treffens Raum zu lassen für ihr Gespräch.
Am linken Bildrand steht ein mit Kameras behängter Fotograf. Einer von vieren, die damals in den Raum im Bonner Kanzleramt durften, sagt Barbara Klemm, und während sie erzählt, entsteht ein zweites Bild von jenem 19. Mai 1973: Eine junge Frau, 33 Jahre alt, richtet ihren Fotoapparat auf die Männergruppe, wechselt den Film, fotografiert weiter. Sie ist aufgeregt, aber entschlossen – es ist das erste Mal, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung, für die sie arbeitet, sie in die Bundeshauptstadt geschickt hat, und sie weiß, dass dieser Moment, dieser Raum ihre Chance sind auf ein besonderes Bild. Eigentlich war ihre Akkreditierung nicht gültig für diesen Programmpunkt beim Besuch Breschnews in Bonn, dem ersten eines sowjetischen Parteichefs seit dem Krieg. Aber sie versuchte es und kam rein. Ein wenig entspannte sie sich, als Leonid Breschnews Blick auf sie fiel, er mit dem Finger in ihre Richtung wedelte und rief: „Endlich mal eine Frau!“
Barbara Klemm lacht, als sie die Szene beschreibt. Der schwere Katalog ihrer neuen Ausstellung liegt vor ihr auf dem Tisch, in dem Gemeinschaftsbüro im Frankfurter Stadtteil Westend, in dem sie ein Zimmer gemietet hat, seit vor neun Jahren ihr zweites Leben als Fotografin begann: das nach der FAZ, bei der sie 34 Jahre lang fest angestellt war. Ihre vielen Fotobücher stehen hier, hier wächst ihr zweites Archiv – das erste, die Jahre bei der FAZ umfassende, ist weiterhin in der Redaktion –, und in flachen Schachteln liegen Abzüge, die sie immer noch selbst macht.
Mit Takt und Diskretionsabstand
„Ich fand immer, ich muss probieren, überall hineinzukommen“, sagt Barbara Klemm und in ihrem zugewandten Blick liegt die Mischung aus Freundlichkeit und Entschiedenheit, die wahrscheinlich vor 40 Jahren schon zu spüren war, als sie, unerfahren, aber ehrgeizig, zwischen all den Männern im Bonner Kanzleramt stand.
Als sie damals zurückfuhr nach Frankfurt am Main, die belichteten Filme im Gepäck, wusste sie nicht, dass sie ein Bild gemacht hatte, das ins kollektive Gedächtnis des Landes eingehen würde. Auch in der Redaktion erkannte man nicht, auf welchem der Negative sich Zeitgeschichte zu einer geradezu theatralischen Szene verdichtete. Es wurden vier andere Fotos gedruckt. Erst ein paar Jahre später war das heute berühmte Foto, Sinnbild einer Annäherung im Kalten Krieg, zum ersten Mal in einer Ausstellung zu sehen.
Ab Sonnabend hängt es wieder an einer Museumswand, im Berliner Martin-Gropius-Bau, zusammen mit 300 anderen Fotografien Barbara Klemms. Es ist die erste umfassende Retrospektive ihrer Arbeit, und Barbara Klemm erträgt es mit zuvorkommender Herzlichkeit, dass nun sie, die Beobachterin, es ist, die erklären und erzählen soll. Dass sie, die mit ihren Fotos die Sicht auf die jüngere deutsche Geschichte geprägt hat, jetzt gewissermaßen selbst zu einem Stück Zeitgeschichte geworden ist.
Sie blättert durch den Katalog wie durch ein privates Fotoalbum, zu jedem Bild gibt es etwas zu sagen, und die Episoden addieren sich zu einer spannenden Erzählung darüber, wie Charakter zu einer Bildsprache wird. Das Taktvolle an Barbara Klemms Bildern ist oft gelobt worden, der Respekt. Das hat auch mit Entfernung zu tun, ihre Kamera hält immer eine Art Diskretionsabstand. Der größere Ausschnitt lässt den Raum vor ihr zu einer Bühne werden; wenn die Choreographie stimmt, sich die Dinge geordnet haben, wie sie es nennt, löst sie aus. Für diesen Regieblick ist sie oft nach oben geklettert, auf Zäune, Mauern oder ein Autodach, wie 1981 bei den Protesten gegen die Startbahn West in Frankfurt. Das Bild, das sie dort gemacht hat, lässt die Konfrontation von Demonstranten und Staat zu einer Inszenierung werden, links die Polizisten, eine Wand aus kugeligen Helmen und Schilden, rechts die bewegte Menge der Startbahn-Gegner. Barbara Klemm sagt, dass sie die erhöhte Position auch deswegen mag, weil man dann weniger Eindringling ist, als wenn man sich frontal nähert. Es kostet sie immer noch Überwindung, Menschen zu fotografieren, die damit nicht gerechnet haben. „Das sitzt hier“, sie legt die Hand an die Bauchgegend. „Aber wenn man nicht dranbleibt, fehlt dem Bild etwas.“
Nur wenn man unaufdringlich und hartnäckig zugleich ist, kann man Bilder machen wie das aus der Moskauer Tretjakow-Galerie: ein junger Mann, kahlgeschorener Kopf, schwarzer Pullover, er sieht aus wie eine der kargen Figuren aus den Bildern Kasimir Malewitschs, vor denen er steht. Auch dieses Foto wird in der Ausstellung hängen. Ein anderes zeigt den Blick in ein Atelier, eine schmale aufrechte Gestalt steht am Fenster. Man sieht sie nur von hinten und glaubt doch etwas zu verstehen von dem älteren Herrn, eine zarte Würde geht von der Silhouette aus. Es ist der Maler Fritz Klemm, Barbara Klemms Vater. 1968 hat sie ihn in seinem Atelier an der Karlsruher Kunstakademie fotografiert, er war dort Professor. „Ich zeige Ihnen Bilder von ihm“, sagt Barbara Klemm und läuft voraus, die Treppe hinunter, mit dem leichten Schritt, der auch ein Grund ist, warum man gar nicht auf die Idee kommt, mit ihr, die im Dezember 74 wird, übers Älterwerden zu sprechen. Es geht raus auf die Straße mit den schön bepflanzten Vorgärten und hinein in eins der villenartigen Gründerzeithäuser. Barbara Klemm schließt die Tür auf zu der großzügigen Wohnung, in der sie mit ihrem Mann, einem Psychotherapeuten, schon lebte, als das Westend noch nicht so vornehm war. Sie biegt nach links ab in ein helles Esszimmer und noch mal nach links, da hängt ein gemaltes Bild: die obere Hälfte hell, von zarten Strichen durchbrochen, die untere schwarz, die Farbe dick aufgetragen. Es ist ein spätes Bild von Fritz Klemm, es zeigt ebenfalls den Blick aus seinem Atelier, streng reduziert, fast schon abstrakt. Keine Frage, woher Barbara Klemms Sinn für Komposition kommt.
Auch die Mutter hatte an der Kunsthochschule studiert. Aber dann kamen sechs Kinder und statt Bildhauerin wurde sie eine Hausfrau, die hin und wieder Kissen bestickte, mit kühnen, farbenfroh-abstrakten Mustern. Barbara Klemm hat ein paar davon auf den Stühlen im Esszimmer liegen.
Es muss ein lautes, beengtes Miteinander gewesen sein, in der kleinen, modernen, von Walter Gropius entworfenen Wohnung in Karlsruhe. Am Wochenende nahm der Vater die Staffelei und ging raus in die Natur, wo es Stille gab und Weite, Barbara Klemm kam manchmal mit. Es war seine Idee, dass Fotografie etwas für sie sein könnte. Da war sie 14 und ziemlich schlecht in der Schule. Fritz Klemm besorgte seiner Tochter eine Lehrstelle im Fotoatelier. Sie fotografierte Hochzeiten und merkte, dass die Szenen am Rande sie mehr interessierten als die Zeremonie. Nach der Lehre fing sie in einer Klischee-Anstalt an, sie war jung und wollte lieber freihaben an den Wochenenden, und als eine ähnliche Stelle in der FAZ in Frankfurt frei wurde, wechselte sie dahin. Zehn Jahre lang arbeitete sie in der Klischee-Herstellung, ein Umweg war das nur auf den ersten Blick. Wenn die Maschine arbeitete, ging sie ins Fotolabor und lernte, was ein guter Abzug ist. Wenn die Arbeit vorbei war, ging sie zu den Orten der erwachenden Studentenbewegung und zu Demonstrationen. Sie blieb länger als die Pressefotografen und hatte am Ende Bilder, die die anderen nicht hatten. Die schickte sie an Stern und Spiegel und machte sich so einen Namen.
Im Lift mit Honecker
Mit der gleichen zurückhaltenden Zielstrebigkeit, mit der sie Fotos macht, arbeitete sie sich hinter der Klischee-Maschine hervor. 1970 wurde Barbara Klemm eine von vier fest angestellten Fotografen der FAZ und betrat eine Berufswelt, in der es noch nicht üblich war, Frauen auf Augenhöhe zu begegnen. „Ich wurde oft nicht ernst genommen, aber das fand ich eigentlich ganz wunderbar“, sagt Barbara Klemm und erzählt, wie sie einmal zur Eröffnung der Leipziger Messe fuhr. Sie hatte keine Akkreditierung, schaffte es aber, in einen Aufzug zu kommen, in dem Erich Honecker stand. Ein Sicherheitsbeamter wollte sie wegziehen, Honecker sagte: „Lass doch das Mädchen mitfahren.“ Barbara Klemm lacht schon wieder sehr vergnügt. Es ist vielleicht eine Gemeinsamkeit beruflich erfolgreicher Frauen dieser Generation, dass sie über den Sexismus, gegen den sie sich behaupten mussten, eher lachen, als sich zu empören. Vielleicht, weil sie von den Männern anderes noch gar nicht erwarteten.
Auch unter den Pressefotografen war sie eine Ausnahme, da sind es Frauen heute noch. Man sieht es ihren Bildern nicht an, aber sie war oft eine von vielen, Teil der Horde von Fotografen und Kameramännern, die auf Veranstaltungen, bei Pressekonferenzen und Parteitagen um die guten Plätze konkurrieren. Auch von diesen Kollegen wurde sie anfangs belächelt. „Aber dann merkten sie, die Qualität hält sich, und später schauten sie: Was macht die Klemm?“
Das Selbstbewusstsein hatte sie auch, als die FAZ 1980 ein Magazin gründete, sie dafür ein paar Mal in Farbe fotografierte – und sich dann entschied, bei Schwarz-Weiß zu bleiben: „Ich habe immer das Gefühl, Farbe lenkt mich vom Inhalt ab.“ Sie hat bis heute nicht das Bedürfnis, etwas in Farbe festzuhalten, „außer vielleicht“, Barbara Klemm zeigt auf den Strauß auf dem Esstisch, „mal Blumen“. Das macht sie dann mit der kleinen Digitalkamera ihres Mannes.
Macht es sie melancholisch, dass Negativfilm, Fotolabor und Abzüge nun schon aus einer anderen Zeit zu kommen scheinen? „Das nicht“, sagt Barbara Klemm, „es ist eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten war.“ Sie muss nur nicht mehr mitmachen. „Und ein paar Verrückte wird es immer geben, die wie ich analog fotografieren. Man bekommt ja das Material noch, es ist nur dreimal so teuer geworden.“ Etwas bedauert sie die Fotografen, die auf den Displays jetzt immer gleich sehen, was sie gemacht haben. Das Geheimnis ist weg, der Augenblick, in dem in der Dunkelkammer aus einer beschichteten Folie, dem Negativ, ein Bild wird. Er macht glücklich, dieser Moment. Warum sollte sie auf ihn verzichten.