Roger Waters und „The Wall“: Einer gegen alles

Es ist zwanzig nach zehn, als der aufgeblasene Eber im Rund des Olympiastadions schwebt. Auf der gummierten Außenhaut trägt das Requisit eine Reihe vertrauter Symbole, ein Kruzifix ist dabei, der islamische Halbmond, Hammer und Sichel, das Logo von Shell, das Dollarzeichen und – auf der rechten Kopfseite – ein Davidstern.

Aus gegebenem Anlass ist es vielleicht hilfreich, noch einmal daran zu erinnern, wie Roger Waters überhaupt auf dieses Schwein gekommen ist, das er jetzt erneut hat fliegen lassen, trotz der Proteste des Jüdischen Forums für Demokratie und Antisemitismus, das ihm von diesem Spezialeffekt abgeraten hatte. Immerhin streift der kleine Exkurs auch jenen Moment, in dem die Idee für das freudianische Stück „The Wall“ geboren wurde, mit dem Roger Waters am Mittwoch in Berlin gastierte.

Zum ersten Mal aufgetaucht ist das Schwein 1977 auf dem Cover der Pink-Floyd-LP „Animals“, die sich im Geiste George Orwells der tierischen Natur des Menschen widmet. Waters, der Songschreiber der Band, teilt die Welt in Schafe, Hunde und Schweine auf. In einem Stück stellt er die Reichen und Mächtigen an die Spitze der sozialen Hierarchie, was ja nicht völlig abwegig ist. Für ihn sind das „Pigs“, also Schweine. Bei einem Konzert am 6. Juli 1977 in Montreal kam es nun zu einem interessanten Vorfall. Während die Band gerade „Pigs“ spielte und ein pinkfarbenes Schwein über dem Auditorium kreiste, warf ein Zuschauer eine Flasche auf die Bühne. Roger Waters unterbrach die Show, bat den Störenfried zu sich nach oben – und spuckte ihm ins Gesicht. Das Schwein in dir bist du selbst.

In diesem Augenblick, so will es die Legende, soll ihm der Gedanke gekommen sein, künftig hinter einer Wand aufzutreten: „The Wall“. Diese Mauer ist im Olympiastadion 150 Meter breit und zwölf Meter hoch, es ist die größte Kulisse aller Zeiten und damit soll es auch mit den Zahlen genug sein. Nur eine noch: 33 000 Leute waren gekommen, etliche Plätze auf den Rängen blieben leer.

Die ersten Worte in der Show spricht überraschend Kirk Douglas aus dem Off: „I’m Spartacus!“ Dann antworten seine Gefährten, einer nach dem anderen: „I’m Spartacus!“, „I’m Spartacus!“ Mit diesem Zitat aus Stanley Kubricks Film, hier als hoffnungsvolles Bekenntnis zur Solidarität unter den Entrechteten vorgetragen, schlägt Roger Waters einen hohen Ton an. Da will einer nicht bloß unterhalten, da geht es um alles: Krieg und Frieden, Arm und Reich, Macht und Ohnmacht, Liebe und Betrug. Die Botschaften prasseln auf das vergnügte Publikum nieder wie ein schwerer Regen.

Feuerfontänen

Aber die erste Viertelstunde ist schon irre. Zur Ouvertüre spuckt die illuminierte Wand Feuerfontänen, es dröhnt und kracht aus allen Richtungen, was dem vorzüglichen Sorround-Sound zu danken ist, Maschinengewehre hämmern, Propeller lärmen und schließlich stürzt sich ein Jagdflieger mitten hinein in die Mauer. Das Modellflugzeug wird dabei ganz analog von einem Drahtseil geführt, was beinahe rührend wirkt neben all den digitalen Tricks. Es hat so was von Puppenkiste. Wenn dann auf dem Bildschirm über der Bühne das Bild von Roger Waters’ Vater erscheint, der 1944 als britischer Offizier in Italien gefallen ist und nach ihm die Toten aus dem Irak, aus Teheran, aus New York, aus London, aus Afghanistan zu sehen sind, Opfer von Gewalt und Terror, wird die Intention dieser Szene deutlich. Es ist Krieg und Krieg ist furchtbar. Nur weil eine Botschaft schlicht ist, muss sie ja nicht falsch sein.

Doch Waters setzt immer noch eins drauf, wie bei der Mauer, die nun langsam wächst. Vor allem in der ersten Halbzeit, die musikalisch nicht so viel hergibt, wirft er Opfer und Täter, Schuldige und Unschuldige aus den Kriegen der letzten hundert Jahre in einem Bilderrausch nicht nur an die Wand, die als extrabreite Projektionsfläche dient, sondern auch in einen Topf. So muss man es sagen. Als er „The Wall“ geschrieben hat, war Waters Mitte dreißig und schon damals eigentlich ein bisschen zu alt für ein Drama, das die Weltsicht eines Pubertierenden vermittelt. An diesem Freitag wird er siebzig.

Kannst Du mich hören?

Die Welt ist in letzter Zeit noch etwas komplexer geworden, für komplexe Betrachtungen indes bietet eine Stadionshow nicht das geeignete Forum. Das ist hier das Dilemma. Im Theaterdonner wird das mahnende Anliegen zu einem Effekt unter vielen.
Waters vertraut der Kraft seiner Kunst nicht, die sich am ehesten doch in seinen Songs formuliert, von denen einige so stark sind wie eh und je, „Mother“, „Young Lust“, „Goodbye Blue Sky“. Das beweist sich, als er es endlich wagt. Gleich nach der Pause singt er „Hey You“ ganz allein vor der steingrauen Mauer. Die Band, die alles Note für Note wie auf der Platte nachspielt, ist verschwunden. Da steht er, der schlanke Mann in Schwarz, alt und grau, und plötzlich sind die Nöte eines Teenagers alles umfassend. Hey du, da draußen in der Kälte, kannst du mich hören? Auf einmal ist da ein Mensch und kein Thesenautomat.

Aber dann schlägt die Paranoia durch und die Bühnenfigur Pink, nun ein Rockstar, halluziniert sich in die Rolle eines Diktators hinein, der sein Publikum beherrscht. Waters hat sich für diesen letzten Akt in einen schwarzen Ledermantel mit roter Armbinde gekleidet, was als Kostümierung natürlich naheliegt. Aber die Reichsparteitagsästhetik der Show wirkt im Berliner Olympiastadion doch etwas beklemmender als vielleicht in Paris.

Als dann das Schwein fliegt, ist es fast geschafft. Der Ballon dient Roger Waters als Agitationsvehikel für alles Mögliche, besser: gegen alles Mögliche: Religionen, Konzerne, Ideologien. Wenn aber alle schuldig sind, ist am Ende keiner verantwortlich. Der Davidstern ist geschmacklos, kein Skandal. Kurz vor elf ist die Mauer kaputt und die Luft aus allem raus.