Rolling Stones im Olympiastadion: Rohe, treibende Kraft - bis in alle Ewigkeit

Wer ein Konzert der Rolling Stones besucht, erwartet die perfekte Show. Und er bekommt sie auch. Das ist einerseits in Ordnung, bei Eintrittspreisen bis zu 800 Euro. Aber dieses Konzept der eingepreisten Satisfaction macht die Sache natürlich auch ein bisschen, sagen wir mal, zu kalkuliert. Es war toll, es war bunt, es war wunderbar, aber das es so werden würde, stand ja praktisch im Kleingedruckten auf dem Ticket. 

Der Auftritt der Rolling Stones am Freitagabend im Berliner Olympiastadion war ein Spektakel, aber kein Ereignis, von dem man seinen Kindern und Enkeln erzählen wird. Das muss man auch nicht, denn die waren ja dabei. Es hatten sich auffällig viele jüngere Menschen in der Arena eingefunden, die mit 67.000 Zuschauern so gut wie ausverkauft war. Die Rolling Stones im Jahr 2018 bieten fundierte Familienunterhaltung. Rock'n'Roll-Circus eben, wie es bei ihnen schon 1968 hieß.

Als die Band kurz vor neun mit dem patentierten Keith-Richards-Riff zu „Street Fighting Man“ die Bühne betritt, ist erstmal die Optik von Interesse. Wie sehen sie aus, was haben sie an, wie ist die Körpersprache. Das Auge ist bei den Stones ja mindestens genauso wichtig wie die Zunge. Also: sie sehen so aus wie immer, nur älter. Diese Behauptung ewiger Jugend war von jeher trügerisch, jetzt ist sie obsolet. Charlie Watts ist vor kurzem 77 Jahre alt geworden und man wird ihm im Laufe des Abends die Anstrengung, die ihm sein leichthändiges Schlagzeugspiel abverlangt, deutlich anmerken. Bis hin zur völligen Erschöpfung. 

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Der Kasper, die graue Eminenz und Mick Jagger

Ron Wood kaspert herum, wie er eben herumkaspert, aber wenn es drauf ankommt, ist er mit einem schneidenden Solo auf der Stelle präsent. Keith Richards hat sich über die Jahre nun auch äußerlich in das verwandelt, was er innerlich schon immer war, die graue Eminenz der Rolling Stones. Eine alte Seele, die weit in die Vergangenheit blickt und ahnt, woher das alles kommt, was sie hier seit einem halben Jahrhundert zelebrieren. Es ist berührend zu sehen, wie Richards bei seine Licks konzentriert seine knochigen Finger auf dem Griffbrett beobachtet und sich zu wundern scheint, wohin sie ihn führen. Nach all den Jahren ist bei ihm nichts von Muckertum zu spüren. 

Anders Mick Jagger, der seine Rolle als Entertainer bis zur Selbstparodie verinnerlicht hat. Er trägt ein enges rotes Lederbluson, enge schwarze Hosen und dick besohlten Gesundheitsschuhe, die es ihm erlauben, seine Sprints auf ein Podium inmitten des Publikums sicher über die Rampe zu bringen. Seine Laufbereitschaft ist nicht mehr ganz so hoch wie früher, was einen irgendwie beruhigt, aber zappeln kann er nach wie vor wie kein zweiter.

Das Farbkonzept setzt auf sattes Rot, kühles Blau, grelles Grün, auch in der Garderobe, wobei vor allem Charlie Watts mit seinem knallroten Button-Down-Hemd zu kanariengelbem T-Shirt zu gefallen weiß. Die Bühnenarchitektur ist für Stones-Verhältnisse erfreulich schlicht und trotzem effektvoll. Keine Klettergerüste, keine Aufblaspuppen, kein Konfetti, kein Schnickschnack. Nur ein wenig Feuerwerk zum Finale. Vier kastenförmige Monolithen im Hintergrund dienen als Projektionsfläche für die hochauflösend gezeigten Konzertbilder, bei denen vor allem die vier Kernmusiker in Nahaufnahme gezeigt werden. Schon ihr Bassist Darryl Jones, nun auch schon seit 25 Jahren dabei, ist seltener zu sehen, Keyboarder und Bläser kommen fast gar nicht vor und ihre neue Backgroundsängerin Sasha Allen hat erst kurz vor Schluss bei „Gimme Shelter“ ihren Auftritt im Spotlight. Der Stadionsound ist für diese Verhältnisse von Anfang an passabel, verbessert sich dann sogar noch im Laufe des Abends. 

„Tach Berlin“

Es gibt nichts zu meckern, wie Mick Jagger sagen würde, der extra ein paar Berliner Sprüche einstudiert hat. „Tach Berlin“ begrüßt er die Leute, erzählt dann von Hackepeter mit Berliner Weiße, er macht einen Witz über den „großartigen neuen Flughafen“, den er schon vor vier Jahren gemacht hat und er stellt Ron Wood später als „arm, aber sexy“ vor. Der Mann hat seine Berliner Lektionen gelernt.

Nach dem unschlagbaren Auftakt mit „Street Fighting Man“, „It's Only Rock'n'Roll“ und „Tumbling Dice“ beginnt so etwas wie der künstlerische Teil des Konzerts, zwei, drei Nummern, die wenigstens etwas aus dem Rahmen der Hitparade fallen, „Just Your Fool“, der neueste und zugleich älteste Song des Abends, stammt von ihrem Album „Blue & Lonesome“, auf dem die Stones vor gut zwei Jahren ihren Heroen huldigten. Die Bühne ist jetzt fast völlig dunkel, auf den Screens Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit Szenen aus dem scharzen Süden, die historische Folie ihrer Kunst. Jagger bläst die Mundharmonika nicht, er bluest sie sozusagen, es ist ein schönes Stück Selbstbehauptung, aber das Olympiastadion ist kein Bluesklub und so verpufft die Hommage leider. Das Dylan-Cover „Like a Rolling Stone“, bei dem Mick Jagger einmal ganz allein im Publikum steht, die Arme schwenkt und alle artig mitschwenken, bietet den Anlass über die Zeile „How Does It Feel“ nachzudenken. Wie muss man sich fühlen, als lebenslanger Dompteur der Massen, hier in diesem historischen Rund und überhaupt. Dann folgt „She's a Rainbow“, ein Titel, den sich die Berliner angeblich gewünscht haben. Vieles, was sich Stones-Liebhaber seit Jahrzehnten wünschen, spielen sie nicht, haben sie noch nie gespielt. Ganz oben auf diesen Listen rangiert „Time Waits For No One“. Die Zeit wartet auf niemanden.

War es das letzte Konzert des Stones in Berlin?

Zumindest für jene, die schon öfter dabei waren, hat jedes Stones-Konzert auch diese erschütternden Momente, in denen man sich des Verrinnens dieser Zeit bewusst wird. Da sieht man sich dort unten in den Menge stehen, an einem heißen Junitag vor 28 Jahren, „Start Me Up“, zum ersten Mal im Leben. So wie damals wird es nie wieder sein. Wem die   Stones nicht nur ein Showact sind, sondern ein  Moment der Biografie, kann sie gar nicht  hören, ohne dabei sich selbst zu begegnen. Die Erinnerung, deren Schleier  sich hier und da hebt, schenkt diesen Konzerten bei allem Bühnenzauber immer auch eine melancholische Note.

Was gibt es noch zu sagen? „Sympathy For The Devil“ ist von brachialer Gewalt, „Midnight Rambler“ von epischer Größe, „Miss You“   leider ein Durchhänger und „Jumpin’ Jack Flash“, hier zum 1145. Mal gespielt, wird die Essenz der Rolling Stones in diesem „teuflischen Ausbruch voller roher, treibender Kraft“, wie es einst ein Kritiker schrieb, bis in die Ewigkeit tragen. Manches deutet darauf hin, dass dies das letzte Konzert im Olympiastadion gewesen sein könnte. Charlie Watts will eigentlich nach jeder Tour aufhören. Die Zeit wartet nicht. Am Ende steht „Bis bald“ auf der Anzeigetafel. Wo auch immer.