Der Junge, der besser leiden wollte: „Der feiste Christus“

Ein fiebriger Roman über ein Gefühlsmonster des frankokanadischen Autors Larry Tremblay.

Auf einem Friedhof beginnt die düstere Geschichte, die Larry Trembleys Ich-Erzähler vorträgt. 
Auf einem Friedhof beginnt die düstere Geschichte, die Larry Trembleys Ich-Erzähler vorträgt. epd-bild/HannoxGutmann

In eine tiefe grollende Dunkelheit, in einen wütenden Strudel zieht Larry Tremblays schmaler, fiebriger Roman „Der feiste Christus“. Wäre man seinem Ich-Erzähler doch besser nicht begegnet, dieser Monstrosität, diesem Monster, das man kennenlernt, als es gerade auf dem Grab seiner Mutter erwacht. Sie hat ihn einst Edgar genannt, „ein Name hart wie ein Stück Holzkohle“, wie er findet. Das sagt er nicht, aber gleich hat es die Leserschaft begriffen: So gefühllos, so moralisch indifferent wie Edgar – verletztes Kind, perverses Muttersöhnchen, gekränkter Messermörder – so kann nicht einmal Holzkohle sein.

Edgar, erwachend, hört also und lauscht: Schlimmes passiert auf dem Friedhof, vier apokalyptische Reiter (oder jedenfalls nennt sie unser durchaus zum Gestelzten, Melodramatischen neigender Erzähler so), vier seltsam Uniformierte vergewaltigen ein Mädchen, lassen es dann liegen. Wie ein Gepäckstück packt Edgar es in den Kofferraum, lässt es dort erst mal liegen, denn es stinkt so, dass er sich erbricht „in die Akazien von Mama“. Aber er will doch auch der Retter dieser jungen Frau sein. Aber er denkt doch auch an Sex, während kaum Leben in ihr ist. Allerdings, als er sie auszieht, um sie in die Badewanne zu hieven, da erst merkt er, dass das misshandelte Mädchen ein Mann ist.

Larry Tremblay, Jahrgang 1954, Autor, Theaterregisseur, Schauspieler, blättert unter Kapitelüberschriften wie „Das Ding“, „Das Tier“, „Die Badewanne“, „Das Präservativ“ die Geschichte einer krankhaften Obsession auf. Edgar ist es egal, wer da in seinem Bett liegt, Hauptsache, das Ding, die Beute ist von ihm abhängig. Er denkt nicht daran, nach dem Namen zu fragen, er nennt ihn „Jean“.  Als sich seine Geisel (denn um nichts anderes handelt es sich) langsam erholt, kauft er eine Kette, um sie ans Bett zu fesseln.

Betet er ihn an? Er bewundert jedenfalls den Hass in Jeans Blick. Und irgendwann die Entschlossenheit des immer noch im Bett Sitzenden, nurmehr zu fressen. Der kleine Edgar wollte besser leiden als Jesus Christus, dann fand er, „das Leiden war der sinnloseste Teil der Schöpfung“, jetzt gehört ihm ein feister Buddha, eine grotesk fette Puppe, auf die er stolz ist, für die er alles tun würde.

Aber wer oder was hat ihn selbst so verformt? Darauf gibt Larry Tremblay keine Antwort. Der frankokanadische Autor schickt uns in eine Kammer des Schreckens, er flüstert, deutet an – „Irgendetwas hatte in meinem Bad geblutet“ –, er lässt das Unerklärliche und Grausige im Raum stehen. Beziehungsweise lässt Tremblays Ich-Erzähler es im Raum stehen, als sei das alles normal, als ginge es ihn nichts an.

Trotz des Titels hat der Roman wenig mit Religion zu tun, viel mit dem Bösen und wie es nie erklärt werden kann. Außer damit, dass das Herz laut Edgar „ein unruhiges Tier“ ist.

Larry Tremblay: Der feiste Christus. Roman. A. d. Franz. v. Michael von Killisch-Horn. Faber & Faber, Leipzig 2020. 128 S., 20 Euro.