Romas Kindeswohl von Ian McEwan: Blut und Glauben

Welche Folgen haben unsere Entscheidungen? Was machen sie mit uns selbst? Das ist ein Thema, mit dem sich Ian McEwan schon öfter beschäftigt hat. In seinem neuen Buch ist das Problem der Kausalität bereits dem Beruf der Heldin eingeschrieben. Fiona Maye, Ende 50, ist Richterin, sie muss fast täglich über Lebenswege von Menschen entscheiden. Ehefrauen wollen ihre Männer der Wohnung verweisen. Verlassene fordern Unterhalt. Eltern streiten über das Sorgerecht der Kinder. Einmal geht es um siamesische Zwillinge: Werden sie getrennt, muss einer sterben, operiert man sie nicht, sterben beide. Das „Kindeswohl“, das dem Roman den Titel gab, ist hier ein schwieriger Maßstab. Es beschäftigt Fiona Maye bis in die Nacht: „Reiner Zufall, wenn man mit korrekt gebildeten und an den richtigen Stellen platzierten Körperteilen geboren wurde und mit liebevollen und nicht grausamen Eltern, oder wenn man, durch geografisches oder soziales Glück, Krieg und Armut entging.“

Er spielt Geige für sie und singt

Ian McEwan lässt seine Richterin sorgfältig nachdenken, wie sie Urteile klar und unangreifbar formuliert. Besonders herausgefordert sieht sie sich, wenn die Konflikte aus der Auslegung von Religion resultieren. So steht einer jungen muslimischen Mutter der strenge Glaube ihrer Familie entgegen. Ins Zentrum des Romans rückt der Autor einen an Leukämie erkrankten 17-Jährigen, der Bluttransfusionen bekommen soll. Die Eltern lehnen das als Zeugen Jehovas ab. Die Richterin entscheidet nicht am Schreibtisch, sondern fährt ins Krankenhaus. Der Junge bezaubert sie: Adams Gesicht war „geisterhaft blass, aber schön, mit bläulichen, zart ins Weiße übergehenden Lippen“, seine Weltfremdheit, sein Humor, seine Intelligenz rühren sie. Sie sprechen über ihre Arbeit, seinen Glauben, seine Zukunftsaussichten. Sie fasziniert auch ihn. Er spielt Geige für sie, und sie singt. Das Treffen der beiden erscheint seltsam unwirklich, so fein gestaltet der Autor es aus.

Dem Ringen der Richterin um das junge Leben steht die eigene häusliche Katastrophe gegenüber. Ihr Mann hat eine Affäre und hätte gern ihren Segen dafür. Ausgerechnet sie, die täglich kaputte Familien vor sich hat, soll kultiviert dem eigenen Gatten das Fremdgehen erlauben. Ian McEwan schreibt in der dritten Person, aus ihrer Perspektive. Ihre Gedanken und Stimmungen sind dem Leser sehr nahe. Vielleicht hätte ihr Mann sich anders verhalten, wenn sie nicht nur durch die einstige Leidenschaft und ein paar gemeinsame Interessen, sondern auch durch eigene Kinder verbunden wären, fragt sie sich. Hier geht es nicht ums Kindeswohl, und nicht nur um Liebe, sondern auch um ihre bürgerliche Existenz.

Routiniert und leicht vorhersehbar

Eine zweite Begegnung mit dem jungen Adam geschieht, als die Richterin gerade zur Routine zurückfindet. Er sieht sein Leben nun mit ihrem verbunden – durch ihre Entscheidung für das fremde Blut. Er bleibt jetzt auch im Roman anwesend, wenn gerade nicht von ihm erzählt wird.

Ian McEwan hat die Arbeit eines Hirnchirurgen in „Saturday“ erkundet, den persönlichen Kampf eines Physikers gegen den Klimawandel in „Solar“ und zuletzt die Tricks des MI5 in „Honig“. In „Kindeswohl“ geht es vordergründig um die moderne Justiz, aber recht eigentlich um das moralische Gewicht unserer Handlungen. Der Autor versteht sein Handwerk. Routiniert und leider vorhersehbar verknüpft er den Weg seiner Richterin mit dem ihres Klienten. In seinem großen Roman „Abbitte“ steckte in der Rückbesinnung auf die folgenschwere Aussage eines Mädchens noch ein Geheimnis. In diesem Buch begreift die erwachsene Frau Fiona Maye leicht, dass sie für Adam nicht die gerechte Göttin Justitia darstellt, sondern eine Verräterin.

Ian McEwan: Kindeswohl. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2015. 224 S., 19,90 Euro.