"Saisonarbeit" von Heike Geißler : Was eine Lageristin bei Amazon erlebt hat
Berlin - Amazon hat ein Problem. Das ist der Stolz der Mitarbeiter, die in diesen Tagen wieder streiken. Sie kommen damit in die Nachrichten und schüren so Sorgen bei den Kunden. Es ist ja schließlich bald Weihnachten. Der Deutschlandchef des Internethändlers verkündet aber, dass dennoch pünktlich geliefert werde. Auch auf der Webseite des Konzerns wird beruhigend auf die Käufer eingewirkt: „Alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit ist Hochsaison in den Amazon-Logistikzentren“, heißt es da.
„In der diesjährigen Weihnachtssaison werden die fast 10.000 festangestellten Mitarbeiter von mehr als 10.000 Saisonarbeitskräften in den deutschen Logistikzentren dabei unterstützt, alle Weihnachtsgeschenke rechtzeitig zu verschicken.“ In kleinen Videos erzählen drei Frauen, weshalb sie so gern bei Amazon arbeiten. Elvira Both zum Beispiel verpackt seit 2012 bei Amazon Geschenke. In diesem Jahr haben sie und ihre Kolleginnen sich etwas Neues ausgedacht. Sie tragen Nikolausmützen.
Keine Undercover-Recherche im Wallraff-Stil
Heike Geißler hat ohne rote Mütze bei Amazon gearbeitet, aber mit orangener Warnweste, um nicht in den Weiten der Lagerhallen von einem Gabelstapler gerammt zu werden. Sie war Saisonarbeiterin. Sie zockelte mit der Straßenbahn durch Leipzig hinaus in eine Gegend, wo kaum Menschen wohnen. Sie war morgens immer müde, aber abends auch. Sie trug in der Halle feste Schuhe und benutzte an der Treppe den Handlauf, wie es von jedem Mitarbeiter verlangt wird. Sie ließ sich duzen und duzte zurück – „denn der Amerikaner sagt nicht Sie“. Sie hat Ware entgegengenommen und in Behältnisse geräumt, Listen kontrolliert, Barcodes gescannt, einen Computer bedient.
Der Lohn stopfte eine Lücke auf ihrem Konto. Deshalb nahm sie die Arbeit an. Heike Geißler, mit der Autorin dieses Textes nicht verwandt, 1977 in Riesa geboren, lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Herausgeberin in Leipzig. Sie hat über ihre Zeit bei Amazon ein Buch geschrieben.
Amazon ist in den vergangenen zehn Jahren zum großen Feind des Buchhandels aufgestiegen, verkauft selbst täglich Tausende von Büchern. In diesem Jahr gab es Ärger mit Verlagen über die Gewinnmargen, die der Internetriese haben wollte. Autoren protestierten. Wenn nun eine Schriftstellerin bei Amazon arbeiten geht, liegt es nahe, darin ein Kalkül zu sehen. Man erwartet eine Undercover-Recherche im Stile von Günter Wallraff. Doch so eine Art von Buch ist „Saisonarbeit“ nicht.
Es ist überhaupt ein sehr bescheidenes Buch, als Broschur mit Papierumschlag im kleinen Leipziger Verlag Spector Books erschienen. Man kann es auch bei Amazon kaufen. Mehrere Kunden äußern sich freundlich, aber einer beschwert sich bitterlich über die Aufmachung und kündigt an, es zurückzuschicken.
Man wird beim Lesen immer trauriger
„Saisonarbeit“ einen Erfahrungsbericht zu nennen, ist ebenfalls zu kurz gegriffen. Es handelt sich, wenn man eine Genrebezeichnung braucht, um eine Mischform zwischen Roman und Essay. Die Schriftstellerin nimmt ihre Beschäftigung bei Amazon als Beispiel für Lohnarbeit im Kapitalismus, beobachtet arbeitende und arbeitslose Nachbarn, denkt an ihre Mutter bei der Post, zitiert Literatur zum Thema.
Dabei bezieht Heike Geißler den Leser mit ein, er blickt durch ihre Augen. Auf der ersten Seite erklärt sie: „Sie sind ab jetzt als ich unterwegs.“ Später wird sie mehrfach an diese Rollenverteilung erinnern. Sie erläutert ihre Arbeitsschritte so genau, dass man sie nachvollziehen könnte, stünde man selbst in der Halle.
Die Erlebnisse bei Amazon sind unspektakulär. Es gibt keine Folter, nur Kontrollen. Kritik ist nicht erwünscht, doch das Geld wird pünktlich gezahlt. Während Geißler bei der Arbeit immer mehr abstumpft ob der Beliebigkeit der Objekte, wird man auch beim Lesen immer trauriger.
Als sie Berge von Plüschtieren und Puppen zu sortieren hat, kommt sie sich vor wie auf einer „Veranstaltung für eineiige Mehrlinge“, an einem absurden Ort also. Gerät etwas durcheinander, muss „der Problemer“ gerufen werden, der offenbar stolz auf seine Rolle als Retter ist. Dass ihm selbst ein Fehler unterläuft, sagt sie ihm nicht. Der Stoffhase Mombel Wombel gelangt so auf den falschen Weg.
Der Frust liegt in uns selbst
Als sie bei den Büchern eingeteilt wird, ist sie glücklich, ähnelt dieser Bereich doch ihrer eigentlichen, zu schlecht bezahlten Arbeit. Doch dann kommt gleich vierzigfach ein Titel, der von einem ehemaligen Freund herausgegeben wurde. Sie spürt Neid. Beim Abwägen ihrer beider Leben steht er eindeutig besser da: „Der Gradmesser war Geld, das ich im Unterschied zu ihm nicht hatte“.
Und dann liegt da eine ganze Palette voll mit Büchern, die sie selbst nie lesen würde, die schlecht und langweilig aussehen. Und sie listet Titel um Titel auf: „Aus Versehen Prinzessin; Jäger der Nacht; Superhelden im Einsatz; Rendezvous am Höllentor…“ und so weiter. „Ich dachte nicht oft an den Buchhandel, dem Buchkunden entgingen“, schreibt sie, „ich dachte eher an mich“.
Der Leser erfährt, dass es zwar Stechuhren gibt und streng auf die Pausenzeiten geachtet wird. Doch die Saisonkraft findet noch Zeit, in die Bücher zu schauen. Sie unternimmt eine Selbstbespiegelung: „Alle Jobs sind im Prinzip gleich, und die Ursache für den Frust am Arbeitsplatz liegt in uns selbst.“ Aber das Buch, aus dem sie zitiert, gibt es gar nicht, zumindest nicht bei Amazon auf der Internetseite – so wenig wie andere Titel, die Geißler lustvoll aufzählt. Und Mombel Wombel, das findet man mit zwei Klicks heraus, firmiert in Wirklichkeit unter dem Namen Wombel Bombel.
Ein Arbeitsplatz wie ein Gemischtwarenladen
Die Autorin spielt mit den Erwartungen an die Einblicke, die sie bieten könnte. Sie entzaubert dabei nicht Amazon, sondern zerstört die Illusion vom guten, schönen, wahren Buch. Das, worum wir in den Feuilletons kämpfen, macht nur einen Teil in der Masse der mehr als 90.000 allein deutschsprachigen Neuerscheinungen pro Jahr aus.
Amazon mag Probleme mit streikenden Mitarbeiten haben, der stationäre Handel hat vor allem seine Probleme mit streikenden Kunden. Heike Geißler erinnert sich an einen lauten, energischen Amazon-Gegner, der dort einfach seine Frau für sich ordern lässt. Oder sie denkt an eine Kollegin, die Kleidung in den Geschäften der Innenstadt anprobiert und sie später zu Hause bei Onlinehändlern bestellt.
Ihr Freund lässt sich Hosen schicken, die er wieder zurückschickt. Am Ende erhält die Autorin einen Brief mit dem Angebot, wieder als Saisonkraft bei Amazon zu arbeiten. Sie verzichtet. Wir, die wir 260 Seiten lang in ihre Haut geschlüpft sind, wissen, warum. Befriedigend ist die Arbeit dort nicht. Aber es ist auch nicht der Vorhof zur Hölle, bloß ein Gemischtwarenladen.