Schaubühne: Noch ein schwerer Fall von Eitelkeit
Es ist peinlich, und es ist natürlich auch eitel, dass der Rezensent hier über sich selbst schreibt. Und dann noch in der dritten Person! Also, wenn schon, denn schon: Ich will etwas klar stellen. Zum Jahresende berichtete ich über die „Gefahr-Bar“, einen musikalischen Theaterabend von und mit Nicolas Stemann. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, fand ich den Abend schlecht. Der Regisseur und zwei seiner Kumpels verzichteten weitgehend auf Proben, sangen ein paar vorwiegend kitschige Lieder, schenkten in indiskutabel winzigen Plastikbechern Getränke aus, verkleideten sich als Tiere und humorten unlustig herum. Der Bericht wurde mit „Ein schwerer Fall von Eitelkeit“ betitelt, und es war darin von Peinlichkeit die Rede. Zutreffenderweise, finde ich.
Nun ist zu Beginn des neuen Jahres an der Schaubühne schon wieder ein musikalischer Abend herausgekommen: „Angst essen Deutschland auf“. Diesmal von und mit Patrick Wengenroth. Der Regisseur hat sich als Rainer Werner Fassbinder verkleidet: Anfangs mit einem schlecht sitzenden grauen Anzug und tief über der behaarten Brust aufgeknöpftem Hemd. Später trägt er einen zwar eleganter geschnittenen, dafür aber leoparden-gemusterten Anzug mit rotem Hemd. Dazu ein angeklebter Seitenscheitel und eine opulente Rotzbremse, viel dichter und gepflegter als die Nikotinzotteln die dem Filmgenie unter der Nase herumfusselten. Kurz vor Schluss verliest Wengenroth − vollständig in einen fünfzackigen roten Plüschstern gehüllt − eine Regierungserklärung von Helmut Kohl, dann platzt er splitternackt aus besagter Plüschverpackung und zeigt dem Publikum seine nicht weniger behaarte Rückseite. Black. Ende.
Ja, auch dieser Abend ist natürlich eitel und auch ziemlich peinlich (dabei übrigens auch nicht weniger ironisch). Aber er ist toll! Und das ganz ohne Alkoholausschank. Ein Widerspruch, könnte der Leser jetzt denken. Und deshalb diese peinlich-eitle Klarstellung: Peinlichkeit und Eitelkeit sind für sich kein Qualtitätsmangel, sie haben sogar kreatives Potenzial. Sie mögen allein noch keine Kunst sein. Aber kann wahre Kunst, können kreative Hervorbringungen ohne Eitelkeit des Künstlers/Hervorbringers und ohne seine Bereitschaft, sich bis auf die Knochen zu blamieren, überhaupt entstehen? So wie ich die „Gefahr-Bar“ nicht allein deshalb schlecht finde, weil der Abend eitel und peinlich ist, finde ich „Angst essen Deutschland auf“ nicht allein deshalb toll.
Der Wengenroth-Abend verfügt nämlich − was hier vor lauter Peinlichkeit und Eitelkeit noch gar nicht zur Sprache gekommen ist − noch über weitere Qualitäten. Sein Interesse besteht nicht ausschließlich in der Selbstdarstellung, sondern es richtet sich darüber hinaus tatsächlich auf so etwas wie einen Inhalt.
Wengenroth hat sich durch die Fassbinder-Interviews gelesen und sie zum Stücktext montiert. Die Spieler treten als Fassbinder-Mitstreiter, Fassbinder-Figuren und als Fassbinder-Facetten auf. Jule Böwe als hedonistisches Wrack, Niels Bormann als Verwandlungstucke, Christoph Gawenda als sanfter Rebell, Ulrich Hoppe als Trocken-Revolutionär, Sebastian Nakajew als Homo-Sexprotz und Lucy Wirth als Glamour-Girl. Doch so fest ist das alles gar nicht aufgeteilt, die Schauspieler spazieren durch Situationen und Beziehungen. Es gibt unschuldig-zarte S/M-Spiele, strunz-naive Anarcho-Sit-Ins, zynische Absturz-Poesien, dazu herzzerbrechende, von Matze Kloppe spelunken- und jukebox-gemütlich begleitete Gesangseinlagen, unter anderem „Bist du bei mir, sterb’ ich mit Freuden“ (Bach), „Boys don’t cry“ (The Cure) „Der Kommissar“ (Falko) und „Is’ nur Kino“ (Glashaus), letzteres unmittelbar kommentiert: „Schleim!“
Aus den Nummern und Fassbinder-Worten entsteht ein bunt- bleiernes Gesellschaftsbild der späten 1970er, als die deutsch-deutsche Nachkriegsjahre noch nicht vorbei, aber jegliche Utopien bereits abgehakt waren. Patrick Wengenroth betrachtet das Treiben, durchwandelt es schweigend und sinnend, bis zu seinem Schlussauftritt. Da bleibt dieser desillusionierte, unter Kohl sozialisierte, postpeinliche Nackedei und sagt posteitel: ich.
Vorstellungen: 12., 13. Jan., 7., 8., 11., 12. Feb., Schaubühne, Tel.: 89 00 23