Sebastian Lörscher: Das ist der Zeichner der Obdachlosen von Berlin

Sebastian Lörscher wollte ein Buch über Deutschland machen. Daraus wurde ein bemerkenswertes Buch über Menschen ohne Obdach: „Schatten der Gesellschaft“.

Sebastian Lörscher in seinem Atelier in Friedrichshain
Sebastian Lörscher in seinem Atelier in FriedrichshainBenjamin Pritzkuleit

Er müsse jetzt mal ein Buch über Deutschland machen, dachte Sebastian Lörscher irgendwann. Da hatte er schon „Making Friends in Bangalore“ gemacht, „Haiti Cheri“ und eins über das wilde Österreich, „A bisserl weiter … geht’s immer!“. Dass das Buch über Deutschland am Ende ein Buch über Obdachlose werden würde, wusste er damals noch nicht, nur, dass er sich Deutschland und seine Menschen mithilfe des Zeichnens erschließen würde.

Wir treffen Sebastian Lörscher, Jahrgang 1985, an seinem Arbeitsplatz in Berlin-Friedrichshain. Sein Schreibtisch steht in einer Ateliergemeinschaft im fünften Stock eines Altbaus. Im Treppenhaus riecht es nach DDR, wahrscheinlich wird hier noch immer Wofasept versprüht. Die Räume sind hell, es gibt Fenster nach fast allen Seiten, und es ist außer Sebastian Lörscher noch keiner da. So früh kommen die Kollegen nicht, sagt er. Es ist kurz vor elf. Die fünfköpfige Ateliergemeinschaft besteht aus ehemaligen Kommilitonen aus der Kunsthochschule Weißensee, Sebastian Lörscher hat dort Visuelle Kommunikation studiert. Geboren ist er in Paris. „Sieht immer gut aus im Lebenslauf, aber da habe ich nur die ersten fünf Monate meines Lebens verbracht“, sagt er. Aufgewachsen ist er dann in München.

Visuelle Kommunikation. Was immer man an der Kunsthochschule darunter versteht, Sebastian Lörscher hat das auf seine eigene Weise interpretiert. Er kommuniziert über Zeichnungen mit Menschen, lernt sie durchs Zeichnen kennen, gewinnt durchs Zeichnen das Vertrauen. In seinem Buch über Deutschland wollte er im ersten Kapitel Menschen am Rand der Gesellschaft zeigen, Menschen, zu denen er sonst keinen Zugang hat. So kam er zu den Obdachlosen, die ihn dann nicht mehr losließen. Das Buch über Deutschland ist ein Buch nur über sie geworden, die Obdachlosen von Berlin. „Schatten der Gesellschaft“ heißt es. Ein Buch über Deutschland ist es trotzdem.

Sebastian Lörscher an seinem Arbeitsplatz.
Sebastian Lörscher an seinem Arbeitsplatz.Benjamin Pritzkuleit

In der Traglufthalle hinter dem Ring-Center und im S-Bahnhof Lichtenberg

Gezeichnet hat Sebastian Lörcher vor allem in der Traglufthalle hinter dem Ring-Center an der Frankfurter Allee und im Kältebahnhof im S-Bahnhof Lichtenberg. Er hatte schon auch Berührungsängste, Klischees im Kopf, die fast alle haben in Bezug auf diese Menschen: dass sie ein Problem mit Alkohol haben, mit Drogen, psychische Probleme. Das stimmt oft auch, sagt Sebastian Lörscher, nur dass hinter diesen Problemen oft andere Probleme liegen. „Hinter jedem dieser Menschen steckt eine eigene Geschichte.“

17 Menschen stellt Sebastian Lörscher in seinem Buch vor, 15 Obdachlose und zwei Sozialarbeiter. Er hat sie gezeichnet, er hat ihnen zugehört. Ohne sich Notizen zu machen, ohne Aufnahmegerät, aber mit ganzer Aufmerksamkeit. Aufgezeichnet hat er diese Gespräche später am Schreibtisch, auch sie sind Teil der Porträts in diesem Buch, stehen zwischen dem Umriss eines Menschen in Schwarz-Weiß und der Zeichnung, in der dieser Mensch ein Gesicht hat, er zu erkennen ist.

Jensen zum Beispiel: „Ich gehe arbeiten wie jeder andere auch: Schnorren halt. Ist mein Traumberuf! (…) Ich hatte ein Haus, eine Frau, einen Job. Aber als nach der Wende mein Malermeister-Abschluss nicht mehr das Gleiche wert war, die Beziehung kaputt ging und ich mit allem noch mal ganz von vorne hätte anfangen müssen, da hatte ich die Schnauze voll. (…) Also bin ich raus, raus aus dem System. Auch wenn es anfangs schwer war auf der Straße – rückblickend war es die beste Entscheidung meines Lebens.“

Wer wollte nicht von Sebastian Lörscher gezeichnet werden

Man kann sich gut vorstellen, dass Sebastian Lörscher mit seiner sanften zugewandten Art bald herzlich empfangen worden ist in den Notunterkünften. Und wer wollte nicht von ihm gezeichnet werden. Viele hätten das gewollt, sagt er. Wenn er wiederkam, brachte er ihnen Kopien der Zeichnungen mit. „Obdachlose freuen sich, wenn sie beachtet werden“, sagt er. „Ein Lächeln, das ist ein Signal, dass sie irgendwie noch dazugehören.“

Oder auch Wilfried: „Verlust ist mein Lebenselixier geworden. Gestern hat man mir mein Handy geklaut, beim Schlafen, einfach aus der Hand heraus. Dafür hab ich heute einen Tennisball gefunden. Was war ich froh, was war ich glücklich. Wenn man nichts mehr hat, kann so ein Tennisball Gold wert sein. Was man damit alles machen kann. Und vor allem: Was man darin alles sehen kann. Das Gesicht von Ronald Reagan zum Beispiel, den äußersten Stern des Sonnensystems, die Krallen eines Habichts, das Zepter Ludwigs des XVI.“

Sein Geld verdient Sebastian Lörscher mit Graphic Recording, das bedeutet, er visualisiert Vorträge, Brainstormings, Workshops oder Diskussionen live mithilfe von Zeichnungen. Es klingt nach Hochleistungssport, wenn er diese Arbeit beschreibt. Er muss dann unheimlich schnell sein, und extrem aufmerksam. Während er zeichnet, muss er weiter mithören und sich schon das nächste Bild überlegen. Diese Arbeit hat er schon für BMW gemacht hat, für Mercedes-Benz, das Rote Kreuz, ein Philosophiesymposium. Er ist eine Art Simultandolmetscher, nur dass er, nicht in eine andere Sprache übersetzt, sondern in Bilder. Diese würden zum Beispiel enorm helfen, eine Diskussion nach vorne zu bringen, sagt er. Oder sie wirkten als Gedächtnisstütze, wie eine visuelle Proust’sche Madeleine, bei deren Anblick alles sofort wieder da ist.

Im Kältebahnhof Lichtenberg.
Im Kältebahnhof Lichtenberg.Sebastian Lörscher

Angst, auf der Straße zu verblöden

Stefan sagt: „Meine größte Angst war, dass ich auf der Straße verblöde. Im Sommer bin ich immer nach der Arbeit in den Park gegangen und habe mich langgelegt. Wenn es dunkel wurde, habe ich mich in ein Internet-Café gesetzt und die ganze Nacht über Dokumentationen oder Rockkonzerte geschaut. Den gesamten Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem habe ich zum Beispiel gesehen. Alle 140 Prozesstage! Um mich geistig zu fordern und um den Gedanken zu entkommen, die man sich täglich so macht.“

Und wer sich jetzt fragt: Ja, man kann Arbeit haben, so wie Stefan, der als Reinigungskraft in einem Kaufhaus arbeitet, und einfach keine WG findet, die einen 52-jährigen Mann aufnimmt.

Sebastian Lörscher hat zunächst in Würzburg studiert, nach einem Praxissemester in Berlin wechselte er nach Weißensee. Dort sei man gefordert worden, seine eigene Stimme zu finden, seinen Standpunkt in der Welt. Ihm ist dadurch bewusst geworden, dass er gern an Orte geht, wo andere nicht hinwollen oder vielleicht auch, sich nicht hin trauen. „Nachts mit Obdachlosen abhängen, das machen nicht viele Leute“, sagt er. Er bringt von dort dann die Bilder mit.

Sebastian Lörscher: Schatten der Gesellschaft. Jaja-Verlag, Berlin 2022, 128 S., 15 Euro. Ein Euro geht jeweils an die Berliner Tafel.