Sexualwissenschaftler zur HU: Reaktion der Uni finde ich unverständlich

Die Humboldt-Universität sagte einen Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit ab. Was sagt die biologische Forschung dazu? Die Berliner Zeitung fragt nach.

LGBTIQ-Flagge bei einem Pride March in Caracas, Venezuela, am 03. Juli 2022
LGBTIQ-Flagge bei einem Pride March in Caracas, Venezuela, am 03. Juli 2022Imago

Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht wollte einen Vortrag über die zwei biologischen Geschlechter an der Humboldt-Universität halten, die Universität sagte diesen am Wochenende kurzfristig ab. Doch was sagt die Fachwelt eigentlich zur menschlichen Zweigeschlechtlichkeit? Die Berliner Zeitung fragte bei Heinz-Jürgen Voß nach, der an der Hochschule Merseburg eine Professur für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung innehat.

Die HU sagte den Vortrag von Frau Vollbrecht mit dem Thema „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ am Wochenende kurzfristig ab und will ihn nun in anderer Form nachholen. Wie stehen Sie als Wissenschaftler grundsätzlich zu solchen Absagen?

Ich habe den Vorgang verfolgt und auch in den Online-Vortrag von Frau Vollbrecht reingehört. Ich finde es grundsätzlich schwierig, wenn solche Vorträge abgesagt werden. Vortragen sollen erst einmal alle, gleichzeitig ist es legitim, wenn eine Gruppe davor demonstriert. Der Arbeitskreis Kritischer Jurist*innen ist nun auch nicht dafür bekannt, dass er gewaltbereit ist. Von Gewaltaufrufen habe ich nichts gelesen. Daher finde ich die Reaktion der Universität unverständlich.

Sie haben in den Vortrag reingehört, Sie sind selbst Biologe und haben in Merseburg eine Professur für Sexualwissenschaft inne. Was sagen Sie inhaltlich zu den Aussagen Vollbrechts?

Bei Frau Vollbrecht kann man schon sagen, dass sie bisher keinen einzigen Aufsatz in Richtung geschlechtliche Entwicklung publiziert hat. Geschlecht ist nicht ihr Arbeitsschwerpunkt. Sie ist Meeresbiologin beziehungsweise will es werden. Sie hat mit ihrem Studium zwar Expertise als Biologin, aber eben auf einem ganz anderen Gebiet. Im Vortrag beschrieb sie, etwas zugespitzt gesagt, Schulwissen. Sie stellte knapp Chromosomen und Gene vor und schloss, populär gängig, das Argument der Fortpflanzungsfähigkeit an. Auf dieser Basis begründete sie biologische Zweigeschlechtlichkeit. Den heutigen Fachdebatten in unserer Disziplin trägt sie gar nicht Rechnung.

Wie blickt denn die Wissenschaft auf diese Debatte? Gibt es nun zwei Geschlechter oder nicht?

Wissenschaftlich wird von Variabilität und individueller Vielfalt ausgegangen. Bei der Entwicklung des Genitaltraktes, bei der Ausprägung von Geschlechtsmerkmalen sehen wir vielfältige Ausprägungsformen, die die Genitalien annehmen können. So einfach, wie man populär denkt, ist es nicht. Auf chromosomaler und genetischer Ebene werden vielfältige Faktoren diskutiert. Dasselbe gilt für Hormonwirkungen und innere und äußere Bestandteile des Genitaltrakts. Deswegen gilt es, die Individualität von Merkmalen wahrzunehmen.

Infobox image
Zur Person
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß hat seit 2014 an der Hochschule Merseburg die Professur für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung inne. Er forschte davor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder zum Thema „‚Sexualität‘ und ‚Gender‘ als Begriffskulturen in der Biologie“ und arbeitete an der Medizinischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg.

Seine Dissertation „Geschlechterdekonstruktion aus biologisch-medizinischer Perspektive“ wurde unter anderem vom Auswärtigen Amt ausgezeichnet.

Gleichzeitig ist aber auch korrekt, dass als Gattungseigenschaft des Menschen Fortpflanzung bedeutsam ist. Hier spielen Ei- und Samenzelle eine Rolle, die befruchtete Eizelle braucht einen Ort, in dem sie sich entwickeln kann und so weiter. Ein unzulässiger Kurzschluss wäre, die Gattungseigenschaft nun quasi als „Pflicht“ auf die individuellen Menschen zu übertragen. Nur weil für die Gattung Mensch, für den Erhalt der menschlichen Art, in der Fortpflanzung zwei Geschlechter erforderlich sind, heißt das nicht, dass sich alle Menschen fortpflanzen müssten oder dazu in der Lage sein müssten. Grundüberzeugung der Evolutionsbiologie ist übrigens gerade: „Evolution sucht Vielfalt“. Das ermöglicht die Anpassung an unterschiedliche Umweltbedingungen. Und es gilt auch für geschlechtliche Merkmale.

Lesen Sie hier auch unsere Kommentare:

Sie sprechen von einer Individualität von Merkmalen, von individueller Unterschiedlichkeit, was meinen Sie damit konkret?

Wenn wir uns beispielsweise die Gruppe der Männer ansehen, gibt es ganz individuelle Ausprägungen des Genitals. Es gibt Hoden, die im Bauchinnenraum verbleiben. Das ist gar nicht mal so selten. Im Bauchinnenraum kann es undifferenziertes Keimdrüsengewebe geben. Der Eingang einer Vagina kann auch bei Männern angelegt sein. Es gibt also ganz unterschiedliche Ausprägungen bei Geschlechtsmerkmalen, was gar nicht so absonderlich ist, weil der weiblich und männlich zugeschriebene Genitaltrakt nämlich ursprünglich aus demselben Gewebe entstanden ist.

Wie viele Geschlechter gibt es denn nun aber?

Wenn wir nur auf Individualität gucken, müsste man sagen, dass es so viele Geschlechter gibt, wie es Menschen gibt. Lange Zeit – seit der Gründung der modernen Biologie um 1800 – wurden die gesellschaftlichen Geschlechterstereotype einfach auf die biologische Wissenschaft übertragen. Man ging gesellschaftlich von einer klaren Ordnung der Geschlechter und der Zurücksetzung der Frauen aus – und versuchte das als biologisch nachzuweisen. Erst seit etwa 30 bis 40 Jahren sind wir in der Biologie dabei, diese stereotype Zuschreibung zurückzunehmen. Es wird zunehmend kritisiert, wenn bereits im Forschungsdesign – also noch bevor die Studie beginnt – in Frauen und Männer unterteilt wird. Unterteilt man so zu Beginn der Forschung, gibt es gar keine andere Möglichkeit, als entweder Gleichheit oder Differenz zwischen diesen zwei festgelegten Gruppen festzustellen. Man kommt aus einem zweigeschlechtlichen Raster gar nicht raus. Diese Herangehensweise wird innerhalb der biologischen Forschung aber zunehmend infrage gestellt. Jetzt beginnt man, unvoreingenommener auf die Geschlechtsentwicklung zu gucken.

Wie weit ist der wissenschaftliche Diskurs da in Deutschland? Es scheint, als würde man die „biologische Zweigeschlechtlichkeit“ in den USA eher anzweifeln als in Deutschland. Stimmt das?

In der deutschen Debatte ist in den vergangenen Jahren aber einiges passiert. Olaf Hiort ist da ein prominentes Beispiel. Bis vor zehn Jahren hat er immer wieder gesagt, dass Zweigeschlechtlichkeit biologisch die Norm sei, und intergeschlechtliche Varianten als Abweichungen betrachtet. Mittlerweile schließt auch er an den internationalen Sachstand an: Im vergangenen Jahr hat er etwa auch populär – in der Zeitschrift Spektrum – einen Beitrag veröffentlicht über die vielen Geschlechter, die es nach Sicht der Biologie gibt. Diese Entwicklung zeigt sich insgesamt in der Biologie.

Ist die Position von Frau Vollbrecht also eher ein Ausnahmefall im wissenschaftlichen Kontext?

Das würde ich tatsächlich so sagen. Ich denke, dass sie mit ihrer Tätigkeit als Meeresbiologin eine beschränkte Übersicht über das Thema hat. Das wird aus ihrem Vortrag deutlich, in dem sie den aktuellen biologischen Sachstand zur Geschlechtsentwicklung quasi nicht aufgreift. Sie wird in ihrem Fachgebiet eine gute Expertise haben und eine Karriere vorbereiten, aber wenn man sich ihren Vortrag anguckt, dann hat sie sich das Wissen über die Geschlechtlichkeit nur überblicksartig angeeignet und steht nicht in den Fachdebatten. Auch deshalb fand ich es merkwürdig, dass die Universitätsleitung einen solchen Vortrag unterbindet. Sie werden zunehmend keine Professur im Bereich der Biologie finden, die die Positionen von Marie-Luise Vollbrecht vertritt.

Verstehe ich Sie also richtig, dass in der Disziplin Biologie grundsätzlich eher die Vielfältigkeit der Geschlechter die Mehrheitsmeinung ist?

Ja, die Mehrheitsmeinung in der Biologie geht in diese Richtung. Vielfältigkeit wird ja auch real wahrgenommen, und die Biologie trägt dem Rechnung. Gleichzeitig ändert sich die Methodik der Forschung. Man untersucht jetzt nicht mehr nur ein Gen und folgert dann weitreichend, dass die Untersuchung „echte Weiblichkeit“ oder „echte Männlichkeit“ belegt habe. Heute ist man zurückhaltender und beschreibt schlicht die Wirkung, die etwa ein Ausfall eines Gens hat. Weitreichende Ableitungen sind bei der geringen Stichprobengröße, wie sie in der Biologie üblich sind, ohnehin schwierig.

Wagen wir einmal einen Blick auf die Genetik. Die landläufige Meinung ist, wer XX-Chromosomen hat, ist weiblich, bei XY-Chromosomen männlich. Welche Rolle spielen Gene und Chromosomen?

Grundsätzlich ist vieles in der biologischen Forschung eigentlich nur Theorie. Das Verständnis, dass die Biologie sicher wissen würde, wie Geschlechter rein genetisch entstehen, ist falsch. Es gibt etwa 1000 Gene, die bedeutsam für die Geschlechtsentwicklung sind. Davon sind 80 untersucht, und auch bei diesen 80 untersuchten Genen gibt es widersprüchliche Ergebnisse von verschiedenen Forschungsgruppen. Der von einer Forschungsgruppe festgestellte Zusammenhang konnte von einer anderen nicht belegt werden. Das ist normales Tun in der Forschung. Vieles ist einfach unbekannt. Es gibt also zum Beispiel Männer mit einem als typisch weiblich betrachteten Chromosomenbestand XX.

Nun gibt es das SRY-Gen, das ebenfalls für die Merkmalsausprägung der Geschlechter verantwortlich ist, das Hoden wachsen lässt. Auch Menschen mit XX-Chromosomen können dieses Gen tragen. Wie passt das zusammen?

Das SRY-Gen bezeichnet die geschlechtsbestimmende Region auf dem Y-Chromosom. Durch die Suche nach dem „Hoden determinierenden Faktor“ kam man darauf. „Hoden determinierend“ daher, weil in der Wissenschaft die Keimdrüsen lange als sehr bedeutsam betrachtet wurden und man auch nur danach suchte, was den Mann so besonders und vollkommen mache – während die Frau als unvollkommene Basis angesehen wurde. Man suchte also ganz konkret auf dem Y-Chromosom nach Unterschiedlichkeit, vernachlässigte aber andere Chromosomen. Auch hier spielte also Parteilichkeit der Wissenschaft eine Rolle. Man suchte eben nur auf dem Y-Chromosom nach dem Hoden determinierenden Faktor. 1993 meinte man, ihn mit dem SRY-Gen gefunden zu haben. Aber zeitgleich zeigten sich Widersprüche: Das SRY-Gen war vorhanden und es hatten sich dennoch keine Hoden ausgebildet. In anderen Fällen war SRY nicht vorhanden und es hatten sich dennoch Hoden ausgebildet. Das gibt eine erste Idee davon, was ich – und wir in der Biologie – mit Komplexität meine.

Daneben gibt es die Gene WNT4 und RSPO1, denen entweder eine antagonistische oder eine verstärkende Wirkung bei der Ausbildung der Genitaltrakte zugeschrieben wird. Beide finden sich sowohl bei einigen Männern als auch bei einigen Frauen. Welche Rolle spielen sie?

WNT4 ist ein Signalmolekül. Ihm wird Bedeutung bei der als weiblich betrachteten Entwicklung zugeschrieben. RSPO1 ist ein Transkriptionsfaktor. Es unterdrückt möglicherweise die als männlich betrachtete Entwicklung. Deutlich wird, dass „weiblich“ und „männlich“ eben nicht getrennt voneinander liegen, sondern dass jeder Embryo erst mal das Potenzial hat, sich in jegliche geschlechtliche Richtung zu entwickeln. Die Geschlechtsentwicklung ist so eng miteinander verdrahtet, da kann man männlich und weiblich nicht mehr trennen. Stattdessen muss man gucken, wie wirken die einzelnen Faktoren miteinander.

Vor welchen grundsätzlichen Herausforderungen steht die biologische Forschung bei diesem Thema?

Die Wissenschaft stellt natürlich immer auch gesellschaftliche Gewissheiten infrage. Das ist ihr Auftrag. Und man sieht es etwa am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit. Das sollte nicht dazu führen, dass man nun alle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die eben diese Zweigeschlechtlichkeit kritisch sehen, beschimpft. Wir müssen uns als Gesellschaft auch leisten wollen, dass die Wissenschaft Dinge anders sieht. Unsere Aufgabe ist eben auch, Dinge herauszufordern, weil Wissenschaft eben tiefer in die Materie eindringt. Gerade bei der Geschlechterfrage gibt es sehr zugespitzte Debatten, weil viele Menschen eben der Meinung sind, dass sie ja nur an sich heruntergucken müssten, um zu sehen, was Geschlecht ist.

Was wäre aus Ihrer Perspektive jetzt nötig?

Gerade jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, den wissenschaftlichen Sachstand zu Geschlecht in der gesellschaftlichen Debatte breiter zu erörtern und nicht einfach zu sagen, was populäres Allgemeinwissen ist. Wissenschaft muss das banale Allgemeinwissen herausfordern, sonst braucht man sie nicht.

Das Gespräch führte Maxi Beigang.