Shermin Langhoff: Ohne den Mauerfall säße ich nicht hier
Am 12. November 1989 war ich in Berlin. Auf dem Konzert mit Joe Cocker, Nina Hagen, Udo Lindenberg, der Band Pankow. Es war toll. Ich mochte Berlin. Seit einer Klassenfahrt dorthin war ich immer wieder dort gewesen. Wir lebten in Nürnberg, ich war 20 und bereitete ein Festival mit deutschen und türkischen Filmen vor. Die Aufregung nach dem Mauerfall, die Erregung ergriff mich auch. Zumal ich bis 1988 in der KP engagiert war und eine junge Kommunistin, die die DDR als das bessere Deutschland betrachtete.
Ich hatte gelernt, vom „antifaschistischen Schutzwall“ zu sprechen. Ich war mit der SDAJ in Suhl gewesen. In marxistischen Kursen der türkischen Arbeitervereine hatte ich versucht, Lenins Lehren für die Organisation einer bolschewistischen Partei in „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ auf die Lage in der Türkei anzuwenden. Schon als ich 12, 13 Jahre alt war, hatte ich auf kleinen Podien gestanden und die türkischen Dichter übersetzt, die in den Emigrantenorganisationen ihre Gedichte vortrugen. 1989 war ich nicht einfach begeistert über den Mauerfall. Ich hatte das Gefühl, die Bundesrepublik werde sich die DDR einverleiben. Nicht aus boshafter Gier, sondern einfach so, weil es das Sicherste und Schnellste war. Vielleicht musste das so sein, falsch war es trotzdem.
Der Mauerfall in Berlin war nur ein Stück des Zerfalls des realexistierenden Sozialismus. Dieses Wort vom realexistierenden Sozialismus schloss ja ein, dass, so schön die Utopie war, die Wirklichkeit doch voller Fehler steckte. Fehler, von denen wir Revisionisten – so nannten uns die linksradikalen Gegner damals – hofften, dass sie nach und nach ausgeräumt würden und an die Stelle der Übergangsgesellschaft ein wirklicher Kommunismus treten werde. So kam es nicht. Die DDR war eine Übergangsgesellschaft – zum Kapitalismus. Nicht anders die Sowjetunion.
Wir waren dabei, wie eine ganze Gesellschaft in kürzester Zeit zerstob. Das ist eine große Erfahrung. So groß, dass man nicht recht weiß, was man mit ihr anfangen soll. Ohne den Mauerfall säße ich nicht hier. Ich wäre nicht nur nicht Intendantin des Maxim-Gorki- Theaters, ich hätte auch Lukas Langhoff nicht kennengelernt. Ich hatte schon als Kind im türkischen Edremit zusammen mit meiner kommunistischen Verwandtschaft „Das Lied der Moorsoldaten“ gesungen. Ich war dann doch ein wenig beeindruckt, dass Lukas der Enkel von Wolfgang Langhoff war, des Autors dieses Liedes, das jeder in der kommunistischen Welt – diesseits und jenseits der Mauern – kannte.
Kurz nachdem ich 1978 zusammen mit meiner Tante nach Deutschland gekommen war, folgte der Militärputsch in der Türkei, und da half ich, die Gefangenen in der Türkei zu unterstützen. Es waren damals Tausende politisch Verfolgte aus der Türkei in der Bundesrepublik. Ich hatte das Gefühl, mein Leben sei nichts wert, wenn ich nichts für sie täte. Meine 15-jährige Tochter sorgt jetzt dafür, dass ich das nicht vergesse. Hier nebenan schlafen die zehn Flüchtlinge, die das Gorki aufgenommen hat. Alles ändert sich und alles bleibt gleich.
Aufgezeichnet von Arno Widmann