Sixtinische Madonna: Hochmesse am Zwinger

Du Heiliger Bimbam!“, heißt es in Sachsen , wenn etwas übergroß und wirkmächtig aufgetan wird. Nun, wenn es um Kunstschätze aus augusteischer Zeit geht, ist im Freistaat eh kein Superlativ zu hoch gegriffen, kein Spektakel gewaltig genug. Just zu Pfingsten, 50 Tage nach Ostern, wo der Heilige Geist über alles Irdische kommen soll und an die Gründung der Instanz Kirche erinnert wird, versetzen Dresdens Kunstsammlungen ihre Hausheilige, die „Sixtinische Madonna“, 1512/13 gemalt von Raffael im Auftrag von Papst Julis II., für die Dauer der Geburtstagsschau wieder, zumindest scheinbar, in ihre einstige Rolle. Sie ist nun nicht mehr das seit zweieinhalb Jahrhunderten singuläre, völlig in den säkularen Kunstkontext geholte Kultgemälde – was der Philosoph Martin Heidegger seinerzeit heftig kritisierte, sich dafür gar mit seinem andersmeinenden Freund Theodor Hetzer anlegte.

Nun stellte der junge Kurator Andreas Henning die Sixtina, beinahe im Heidegger’schen Sinne, auf als Andachtsbild im Schummerlicht, anzuschauen als Hochaltar, ganz wie damals und über 200 Jahre lang bis zum Verkauf nach Dresden 1754, bei den schwarzen Mönchen in der Klosterkirche San Sisto in Piacenza. Die benötigten – das ganze Ankaufs-Prozedere ist rechts des Saales akribisch dokumentiert – dringend sehr viel Geld für ihr marodes Kloster. Und Kunstsammler August III., sächsischer Kurfürst und polnischer König, brauchte dringend eine schöne Madonna für seine Reputation. Zwei Jahre wurde mit den Mönchen gefeilscht, 25 000 Scudi kostete die damals noch recht Unbekannte, der der italienische Kunstgeschichtsschreiber Vasari lediglich zwei dürre, immerhin anerkennende Zeilen gewidmet hat

Ein neuer, historischen Vorbildern der oberitalienischen Kirchenkunst nach 1500 nachempfundener Tabernakelrahmen umgibt das Bild. Der neunte in fünf Jahrhunderten, und dieser kommt dem Ursprungszustand wohl am nächsten: handgeschnitzte Pflanzenornamente, vergoldet, mit einem fast kaminartigen Sims. Der feierlich abgedunkelte Ausstellungsraum in der Sempergalerie am Zwinger, gleicht mit seinen Säulen – etwas abstrakt – tatsächlich einem Kirchenschiff mit Blicksuggestion auf den Altar: Die Madonna in der langen Mittelachse leuchtet trotz aller Firnisschichten der dreiteilig verklebten Leinwand. Sie ist so gut erhalten, dass sie bislang kein Restaurator antasten musste. Auch nicht sowjetische Konservatoren, als das Bild, wie viele andere, für zehn Jahre nach Kiew und Moskau als Kriegsbeute verbracht wurde. Dieses Kapitel fand in der Ausstellung ebenfalls Platz. Unter anderem durch ein Gemälde, auf dem sich die Sowjets als waffenstarrende Retter der Sixtina stilisieren. Die Dame in Uniform, Wissenschaftlerkittel und mit Lupe auf der Munitionskiste (Foto unten) könnte man womöglich als Frau Antonowa, die bis heute allmächtige Moskauer Kunstkommissarin, identifizieren.

Rechts des „Altars“ hängt Raffaels Bildnis des Auftraggebers, Papst Julius II. Piacenza war dem Kirchenstaat beigetreten, da brauchte es in der dortigen Klosterkirche ein bildmächtiges Symbol. Links ein undatiertes Werkstattbild: Es zeigt den Heiligen Lukas, eine Madonna malend – das Alter Ego Raffaels?

Dann schauen wir einer geheimnisvollen Schönen ins Gesicht: „Donna Velata“, gemalt auf Leinwand 1513. Sie soll das Urmodell der Sixtina gewesen sein. Der Florentiner Leihgeber, die Galleria Palatina, wirbt mit dieser kunsthistorischen Feststellung, und die großen samtbrauen Augen der Signorina leugnen das auch nicht. Ihre Transformation in die Mutter-Gottes ist irdisch, keine entrückte Heilige, sondern eine sehr junge, besorgte, eben noch nicht sehr routiniert-gelassene Mutter mit ihrem Säugling auf dem Schoß und im Arm. Eine Epiphanie: Die geistige Welt tritt dem Betrachter entgegen. Gekonnt hat Raffael beide Sphären, die irdische und die himmlische, in dem Bild zusammen gebracht. Die beiden Heiligen, die kniende Barbara mit gesenkten Augen, und Sixtus, an dessen rechter Hand durch eine malerische Eigenheit der Eindruck entsteht, als habe er zwei Zeigefinger (eine optische Täuschung, wie die Dresdner Kunsthistoriker erklären), sind himmlische Gestalten.

Die Madonna jedoch kommt, wie Fleisch und Blut, aus einem geöffneten dunkelgrünen Vorhang und über kleine quellende Wolken auf die Erde, direkt auf uns Betrachter zu. Und die Engelchen stützen sich auf eine Brüstung am unteren Bildrand, die Arme aufgestützt, die Augen nach oben, so, als würden Kinder andächtig einem Puppentheaterspiel folgen. Raffael machte aus dem mittelalterlichen Standardmotiv wahrhaftig etwas Neues, Menschenzugewandtes, das aus dem Licht kommt.

Nach dem Ankauf durch August III. dauerte es noch einmal gute 60 Jahre, ehe die Sixtina auch endlich die Gunst der Sachsen gewann. Deren Favorit in den königlichen Sammlungen war bis dahin Correggios „Heilige Nacht“. Nur langsam wirkte die berückende Schönheit von Raffaels Bild. Es war der Antikenforscher Winckelmann, der schon 1755 als einer der Ersten die ganze Größe dieser Madonnen-Version erkannte: Nämlich über die eigentliche sakrale Bedeutung hinaus auch die unverstellt gemalte Menschwerdung Christi, herunter von der Leinwand – ins Diesseitige, beinahe Fassbare. Raffaels Sixtina, gemalt „alla prima“ – schnell, mit Schwung und eher intuitiv – wirkt auf uns gleichsam herabsteigend aus einem doch zum Anbeten verlockenden Altar. Ist sie damit eine von uns? Eine Sterbliche?

Nun, soweit lassen es die Dresdner Ausstellungsmacher in ihrer Sempergalerie nun doch nicht kommen. Der Absperrungsstrich vor dem unschätzbaren Gemälde hält schon auf Abstand von der „schönsten Frau der Welt“, wie auf allen Plakaten, auf dem Katalog behauptet wird.

Fakt ist , dass die Sixtina, vor allen Schönheitsköniginnen der Kunstgeschichte, bereits Mitte des 19. Jahrhunderts an grenzenloser Popularität gewann. Die Maler der Romantik kopierten und variierten, was das Zeug hielt. Das Bild hielt Einzug in die bürgerlichen Wohnzimmer und Salons, in Literatur, Musik, Kunsthandwerk und bald auch das neuste Medium, die Fotografie. Und das Auffälligste: Die beiden Engelchen zu Füßen der Madonna traten eine eigene Karriere rund um den Globus an. Es wurde eine Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch.

Eine riesige Vitrine als Epilog der Ausstellung zeigt, dass es seit Ende des 19. Jahrhunderts – und bis heute – fast nichts gibt an Souvenirs und Werbeartikeln, auf dem das Mariengesicht und die beiden pausbäckigen Kinder-Engelchen nicht Platz gefunden hätten: von der Fleischwarenwerbung (made in USA) über Lampen, Schuhe, Shirts, Geldbörsen, Socken, Kissen, Weinetiketten, Regenschirme, Uhren, Christstollenkartons oder Schokolade. Bis zum Klopapier; die Rolle kostet in Dresdner Souvenirläden fünf Euro. Welch Gipfel der Intimität mit Raffaels Ikone.

Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Bis 26. August.