Soderbergh in Cannes: Die guten Dinge des Lebens
Wer in einen Horrorfilm geht, sollte sich nicht darüber beschweren, dass ihm dann vor Schreck fast das Herz stehenbleibt. Wer sich für eine romantische Komödie entscheidet, sollte auf ein paar Albernheiten gefasst sein. Und wer sich einen Film des Regisseurs Nicolas Winding Refn ansieht, muss gefasst sein auf brutale Szenen.
Dennoch stellt sich, wie bei allen Gewaltdarstellungen, die Frage, welche Funktion diese Szenen haben. Bei „Only God Forgives“, der neuen Regiearbeit des dänischen Hollywood-Imports, stellt sie sich besonders. Spätestens seit Refn im Jahr 2011 beim Festival von Cannes für „Drive“ den Regiepreis gewann, gilt er als einer der hippsten Regisseure überhaupt und zwar wegen seiner Hyper-Stilisierung eines alten Genres, des Thrillers. „Only God Forgives“ erlebte am Mittwoch im Wettbewerb von Cannes seine Premiere, und der Wahnsinnsandrang vor der Vorstellung bewies, was die Leute erwarteten – „a hot movie“.
Am Ende gab es Buh-Rufe für einen Film, der einfach nur um seine Gewaltszenen herumgebaut, nur ihretwegen da ist. Der famose Ryan Gosling, der schon in „Drive“ die Hauptrolle verkörperte, spielt den jüngeren Sohn einer Drogenhändlerin (Kristin Scott Thomas), die zu ihm nach Thailand reist, nachdem hier ihr älterer Sohn getötet wurde – eine Vergeltungstat, der Mann hatte eine 16-Jährige ermordet. Das ist für Windig Refn nun Anlass, seine Figuren immer neue, rötlich im Dunkel schimmernde Räume zu durchschreiten und ihre Gesichter vor immer neuen, raffiniert ausgeleuchteten Hintergründen aufscheinen zu lassen – bis eben geschlagen, gefoltert und getötet wird. Die Details ersparen wir uns. Genre-Filme hatten in Cannes immer ein Zuhause, strittige Filme auch. Wenn aber der Überschuss – ob nun an Gewalt oder an Stilisierung – nicht allein das beste, sondern vielleicht einzige Argument für einen Film ist, dann liegt etwas im Argen.
Neuer und letzter Film
Um Überinszenierung geht es auch im neuen und vorgeblich letzten Film von Steven Soderbergh. Auf dem 66. Filmfestival von Cannes gibt der US-Amerikaner mit einer Geschichte über den Entertainer Liberace seinen Abschied. Vor ein paar Jahrzehnten füllte dieser Pianist mehrmals am Tag die Säle in Las Vegas; mit diesen Auftritten sowie mit Fernsehshows verdiente er Millionen. Der Mann war schwul. Seine Bühnengarderobe war berüchtigt-pompös, Mäntel aus Straußenfedern, die Anzüge darunter üppig mit Swarowski-Kristallen bestückt und die Hände mit massivem Goldschmuck. Seinen Flügel auf der Bühne schmückte ein verschnörkelter Kerzenleuchter. Liberace ist eine der großen amerikanischen Show-Legenden. Auf ihn geht jener Aphorismus zurück, der besagt, dass zu viel von einer guten Sache ganz wunderbar sei. So lebte er auch, exzessiv. Sein Verschleiß an jungen Liebhabern war groß.
1977 lernt der Show-Star den Tiertrainer Scott Thorson kennen, für den er seinen damaligen Lover hinauswirft. Der junge Mann aus Wisconsin wird verwöhnt, glamourös eingekleidet, mit einem Auto und Schmuck beschenkt, ins Vertrauen gezogen sowie körperlich optimiert mit Hilfe plastischer Chirurgie – bis Liberace ihn satt hat, weil ein neuer, jüngerer Mann seine Aufmerksamkeit erregte. Es ist eine anrührende Geschichte, die Soderbergh hier erzählt – komisch darin, wie Liberace sich prunkvoll überinszenierte als Kitsch-König und Klischeebild einer Tunte, samt Schoßhündchen und reichlich Champagner beim Bad. Weniger lustig ist Scotts Schicksal: Er zerbrach fast, als Liberace seiner überdrüssig wurde.
Matt Damon spielt den Jungen vom Lande, der an der Westküste ins schwule High Life zum Ausgang der 1970er-Jahre gerät, ohne wirklich zu wissen, wie ihm geschieht. Wer den Hollywood-Star bis dato für einen eher mittelprächtigen Schauspieler hielt, wird sein Urteil revidieren müssen, denn Damon fördert in Scott nach und nach eine unerwartete Sensibilität und Fragilität zu Tage. Ja, er ist fast schon ein Fall für den Darstellerpreis von Cannes, wäre da nicht Michael Douglas: Auch er stand nie im Ruf großartiger Schauspielkunst, doch als Liberace macht er einen mehr als staunen. Fantastisch nuanciert gibt Douglas junior die Show-Legende: privat erbarmungslos hedonistisch, im Beruf überaus diszipliniert, ein Exzentriker dazu – und das alles, ohne diese Figur je zu verraten. Die Rolle des Liberace könnte die Lebensleistung des Michael Douglas sein. Am Ende dieser dramatischen Liebesgeschichte warten dann die 1980er – und Aids. Nicht Scott, wohl aber Liberace starb an der Krankheit, was dessen Management noch zu vertuschen suchte; so waren die Zeiten. Ob die HBO-Produktion „Behind the Candelabra“ nun wirklich Steven Soderberghs letzter Film ist, wird man wohl erst in ein paar Jahren sicher wissen.
Hommage an die Stadt Rom
Und noch ein Schauspieler empfiehlt sich für den Darstellerpreis von Cannes: Scheinbar mühelos trägt der Italiener Toni Servillo den neuen Film seines Landsmanns Paolo Sorrentino auf den Schultern, für den er in „Il Divo“ schon den ehemaligen, kürzlich verstorbenen italienischen Ministerpräsidenten Andreotti verkörperte. In „La Grande Bellezza“ spielt Servillo nun den Schriftsteller Jep, der schon länger nichts veröffentlich hat, aber ein Leben im Glanz führt. Sorrentino begleitet seinen Helden auf eine teils reale, teils imaginäre Reise ins Innere der Conditio humana. Die seltsame Schönheit und Kreatürlichkeit der Menschen, die Jep beobachtet, steht im Mittelpunkt dieses visuell überbordenden Films, der auch eine Hommage an die Stadt Rom ist und an den Regisseur Federico Fellini.
Selbst wer „La Grande Bellezza“ nur für eine moderne, ärmere Variante von Fellinis Filmen hält, wird dem nächsten Regieeinfall seines Nachfolgers Paolo Sorrentino im Kino immer schon entgegenfiebern. Ja, dieser Film ist ein Kandidat für die Goldene Palme!