Das Filmfestival als Schlachtfeld: Über die politische Rolle der Berlinale
Die Berliner Filmfestspiele haben sich stets als politisches Festival definiert. Was bedeutet das in Zeiten des Krieges?

Jedes Mal, wenn die kürzlich verstorbene Gina Lollobrigida während der Berlinale von 1986 das Zoo-Palast-Kino betrat, umwehte sie der Hauch einer vergangenen Ära. Eine Diva kehrte zurück in die Filmwelt, als diese für ihresgleichen nur noch wenig zu bieten hatte. Und so war es nur konsequent, dass „Gina Lo“, die das Kino der 1950er- und 60er-Jahre mit ihrer herausfordernden Gegenwärtigkeit verzaubert hatte, als Jury-Präsidentin zurückkehrte. Das, was sie einmal ausgestrahlt hatte, wirkte im wenig glamourösen Berlin „bigger than life“, nun jedoch sollte sie urteilen über die Filme der Zeit.
Wie sie das tat, gilt seither als bemerkenswertes Kapitel der Berlinale-Geschichte. Gina Lollobrigida distanzierte sich von der Entscheidung jener Jury, der sie selbst angehörte. Reinhard Hauffs „Stammheim“ über den beklemmenden Prozess der deutschen Justiz gegen Mitglieder der Rote-Armee-Fraktion (RAF) war in ihren Augen kein Film, nicht einmal der Stoff für eine Dokumentation. Ein Festival sei dazu da, sagte Gina Lollobrigida damals dem Nachrichtenmagazin Spiegel, den Film als Kunst weltweit zu propagieren.
„Ein Filmfestival ist kein Schlachtfeld, auf dem Preise für politische, kommerzielle und persönliche Interessen zu gewinnen sind.“ Es war ein harsches Urteil, mit dem sie keinen Sinn aufzubringen gewillt war für den kargen Minimalismus Reinhard Hauffs, der in seiner Arbeit die Gewalt der verschwörerischen Terrorgruppe, aber auch die Kälte der Justiz dargestellt hatte. Mit ihrem Begriff des Schlachtfelds lag Gina Lollobrigida keineswegs falsch.
Das starke Diktum einer starken Frau
Was die Intervention der Lollobrigida so einzigartig und noch heute so bedenkenswert macht, ist ihr beherztes Eintreten für die Bildkraft des Kinos. Es war kein Streit um politische Haltungen, sondern ein Eintreten für die ästhetische Dimension des Films an sich. In „Stammheim“, so hob Lollobrigida ihre Position hervor, werde ein Bildteppich unter ein Gerichtsprotokoll gelegt, „das man lesen, nicht verfilmen sollte.“ Das starke Diktum einer starken Frau.
Die Berlinale hat seit jeher für sich in Anspruch genommen, ein politisches Festival zu sein. Oft wirkte der Satz wie aus der Not geboren, weil gegen die mondäne Selbstbezüglichkeit, die beim Schwesterfestival an der Croisette in Cannes zur Schau getragen wird, von Berlin aus ebenso wenig anzukommen ist wie gegen die elegante Leichtigkeit am Lido in Venedig. Im Berliner Winter wirkt das Politische wie ein Label, das gut zur rauen Wirklichkeit der aus dem Kalten Krieg kommenden Frontstadt Berlin passt.
Große Momente hatte die Berlinale immer dann, wenn die Einnahme politischer Standpunkte dringend geboten war. Als 2011 der iranische Regisseur Jafar Panahi seinen Platz in der Berlinale-Jury nicht einnehmen konnte, weil er zuvor in Teheran infolge eines dubiosen Gerichtsverfahrens zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt worden war, blieb sein Stuhl in Berlin demonstrativ leer. Die symbolische Geste machte den Fall weltweit bekannt, und die Annahme, dass die Solidarität der Filmleute dazu beigetragen haben könnte, dass Jafar Panahi nach neuerlicher Haft unlängst auf Kaution aus dem berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis freigelassen wurde, ist durchaus begründet.
Die Wirkung künstlerischer Gegenreden
Die Hoffnung auf die Wirkung künstlerischer Gegenreden oder ästhetischer Interventionen fällt angesichts monströser Manifestationen von Macht gering aus. Was hat die Berlinale zum russischen Krieg gegen die Ukraine anderes aufzubieten als einen Aufschrei gegen die Zerstörung des Kulturlebens in Kiew, Charkiw und anderswo sowie filmische Reaktionen auf die obszöne Ausübung der Gewalt? Eins der vorrangigen Ziele des russischen Krieges ist die Auslöschung der ukrainischen Kultur. Dagegen drohen Filmbilder und die Stimmen des Protests auf fatale Weise zu verblassen.
Das Kino ist keine Meinungsplattform, über die man mit guter Gesinnung Unterschriftenlisten für eine bessere Welt zirkulieren lässt. Vielmehr lebt es von der inneren Spannung der Hervorbringungen des Lichts wie von der Verstörung, die das Gesehene hervorzurufen vermag. Solidarität kann guttun, Empathie ist ein wichtige Regung. Gute Filme aber begeben sich weniger in einen kulturellen Konflikt hinein, als dass sie in der Lage sind, ihn zu beschreiben und in allen seinen Facetten durchzuspielen. Streit und Aufruhr auslösen zu können, ist ein konstitutiver Bestandteil des sinnlich-ästhetischen Ausdrucks. Wenn der Streit ums Kino ausbleibt, erscheint selbst die Beruhigung, die Filme ebenfalls zu erzeugen vermögen, trügerisch, ja als Bedrohung.