Tanz im August in Berlin: Der Einbruch des Fremden im Nirgendwo
Eine Frau klopft an eine Tür. Sie ist von ihrem Trailer über einen kleinen Platz zum nächsten Trailer gelaufen. Die Nachbarin öffnet. Stumm starren sich die beiden an. „Ich wollte mal vorbeischauen“, sagt die Klopfende mit verzagter Stimme. Ein Moment Schweigen, dann ist die Tür wieder zu. Die draußen Stehende klopft noch einmal, aber als die Nachbarin die Tür wieder öffnet, ist sie verschwunden. Sie hat sich regelrecht in Luft aufgelöst – man weiß nicht, wie das passiert ist. Genauso wenig kann man sich erklären, wieso der koreanische Tänzer Seoljin Kim, der mit einem Arm an einer Fensterbrüstung lehnt, auf einmal waagerecht in der Luft schwebt.
Der Tanz im August hatte zum Auftakt für Missstimmung gesorgt. Weder Emanuel Gats im HAU 1 präsentierte Produktion „Sunny“ konnte überzeugen, noch das sich daran anschließende Stück „Monument 01: Valda und Gus“ im HAU 2, in dem die Choreographin Eszter Salamon die Auseinandersetzung mit zwei hinreißenden, alten Tanzlegenden versemmelt.
Gleich fielen einem eine Menge Dinge ein, die überhaupt ganz grundsätzlich an dieser Festivalausgabe zu bemängeln sind. Etwa, das der Festivaletat endlich aufgestockt, aber dies von der Festivalleiterin Virve Sutinen nicht genutzt wurde, um den ästhetischen Radius in Richtung modernes Ballett zu erweitern. So, wie es in den besten Zeiten des Tanz im August einmal gewesen ist. Stattdessen hat man mehr große Gruppen eingeladen, die in das auch sonst übliche HAU-Profil passen.
Am zweiten Tag ist im Haus der Berliner Festspiele Peeping Tom angekündigt, eine belgische Gruppe, die weltweit tourt, aber in Berlin noch nie zu sehen war. Auf der Bühne liegt Schnee. Eine in Pelz vermummte Frau stolpert in die Bühnenmitte. Das kann nicht gut gehen, denkt man. Aber die Bedenken währen nur einen Moment. Denn ziemlich schnell beginnt der Zauber von „32 rue Vandenbranden“, einem bereits vor sieben Jahren entstandenen Stück, das in einer verrückten Mischung zeitgenössischen Tanz und Zirkus miteinander kreuzt, sozial realistisches Theater und magische Poesie. Wie die beiden Peeping-Tom-Leiter, Gabriela Carrizo und Franck Chartier, unaufhörlich neue Wendungen und Überraschungen schaffen, eine unaufhörliche Atemlosigkeit – das ist große circensische Kunst. Carrizo und Chartier haben in den frühen 90ern, in dessen großen Anfangszeiten bei Alain Platel getanzt und schleudern all das mit Begeisterung durcheinander.
Gleich am Anfang kommen aus den Schneeverwehungen die beiden bis oben hin bepackten Koreaner Hun-Mok Jung und Seoljin Kim. Der Einbruch des Fremden im kleinen Trailerpark im Nirgendwo. Herzzerreißend schön wie Kim auf Spitze zur schönen, schwangeren, düster-umwölkten Marie Gyselbrecht schwebt und wie sein Körper zusammensackt als er abgewiesen wird. Als bestehe er aus Gummi, als habe er keine Knochen mehr. Oder wie die korpulente, verwahrlost wirkende Eurudike De Beul ganz unvermittelt in allem Elend Bellinis Opernklassiker „Casta Diva“ anstimmt.
Etwas von der unbekümmerten Wirkungsverliebtheit von Peeping Tom wünscht man auch der Choreographin Eszter Salomon. Ob diese zu sehr in Ehrfurcht erstarrt oder nicht neugierig genug war auf die Geschichten der 81-jährigen Valda Setterfield und des 76-jährigen Gus Solomon junior lässt sich schwer sagen. Aber die ungarische Choreographin lässt ihre beiden eigentlich so quicklebendigen Akteure, die einst bei Merce Cunningham tanzten, ziemlich dröge aussehen.
Der israelische in Frankreich lebende Choreograph Emanuel Gat, der den Tanz im August mit seinem Stück „Sunny“ eröffnete, ist ein anderer Fall. Mit Wirkung hat er kein Problem. Das zeigt sich gleich am Anfang, als ein erster Darsteller wie ein animistischer Priester in absurdem Kostüm auf der Bühne erscheint. Die Brust und Waden mit Schaffell geplustert, die Arme mit Perlen besetzt.
„Geschehen lassen“ ist das Motto von „Sunny“, in dem sich der Elektromusiker Awir Leon und die zehn Musiker der Company frei begegnen sollen. Aber „Sunny“ wirkt kein wenig offener, es wirkt nur ein wenig ärmer als andere Arbeiten von Emanuel Gat.
Wie löwenhaft die HAU-Intendantin Annemie Vanackere für den Tanz im August kämpft, machte der Regierende Bürgermeister Michael Müller in seiner Eröffnungsrede auf charmante Weise deutlich. Virve Sutinen sprach erstmals Eröffnungsworte auf Deutsch. Nicht um Stile und Strömungen gehe es bei diesem Festival, sondern um künstlerische Arbeiten, in denen ernsthafte Fragen gestellt werden, sagte sie. Am Eröffnungswochenende war das noch nicht recht zu erkennen.