Theater: 50 Jahre Schaubühne in Berlin
Berlin - Viel, sehr viel muss glücklich zusammenkommen, um der Theaterarbeit einer Bühne jene seltene Geltung zu sichern, die weit hinausreicht über den flüchtigen Moment ihrer unmittelbaren Gegenwart.
Nur dreimal hat sich das in der Geschichte der europäischen Theaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignet: an dem von Bertolt Brecht und Helene Weigel 1949 in Ost-Berlin gegründeten Berliner Ensemble, an dem im gleichen Jahr in Mailand von Giorgio Strehler und Paolo Grassi eröffneten Piccolo Teatro und an der West-Berliner Schaubühne unter deren Leitung von Peter Stein zwischen 1970 und 1985, mit den Spielstätten zunächst am Halleschen Ufer, später am Lehniner Platz.
Zu dieser Schaubühne Steins und seines Ensembles, die am 8. Oktober 1970 mit einer Inszenierung von Brechts „Die Mutter“ begann, gab es seit 1962 einen bemerkenswerten Vorlauf, der jetzt Anlass gibt, das fünfzigjährige Jubiläum des Theaters zu begehen.
Eher minimale Zuwendungen
Die durch ihr gemeinsames Interesse an neuen, von den etablierten Bühnen vernachlässigten Stoffen und Spielformen einander freundschaftlich verbundenen, wissenschaftsmüden Studenten Jürgen Schitthelm, Klaus Weiffenbach, Leni Langenscheidt und Waltraut Mau (bald gehörte dazu auch Dieter Sturm, später einer der einflussreichsten Dramaturgen des deutschen Theaters) organisierten damals als private Initiative in einem Mehrzwecksaal des Gebäudes der Arbeiterwohlfahrt am Halleschen Ufer Aufführungen von Stücken sonst allenfalls durch die seinerzeit sehr präsenten Universitätsbühnen (mit einem eigenen Festival in Erlagen) wahrgenommener Autoren wie Horváth, O’Casey, Arnold Wesker und Armand Gatti.
Es war ein Privattheater, das Schitthelm und der Bühnenbildner Weiffenbach als Gesellschafter betrieben, anfangs von der öffentlichen Hand nur für einzelne Produktionen punktuell subventioniert. 1968 belief sich der Zuschuss auf 592.000 Mark, noch 1970, also nach dem Einzug der Stein-Gruppe betrug die Subvention lediglich 1,8 Millionen Mark, die sich bis 1977, als die Schaubühne bereits als führendes Theater der Republik galt, auf etwa zwei Drittel des Gesamtetats von 8,2 Millionen erhöhte – gemessen an den Subventionen der deutschen Stadt-und Staatstheater waren das eher minimale Zuwendungen.
Die Regiebegabung seiner Generation
Bis heute ist die Organisationsform der Schaubühne die eines Privattheaters geblieben, nach fünfzig Jahren übergibt der einstige Mit-Gründer Jürgen Schitthelm in diesen Tagen seine Leitungsfunktion an die Nachfolger Friedrich Barner und Tobias Veit. Es war ein junger Mitarbeiter der Kulturbehörde, der Senatsangestellte Nürmberger, der 1970 seinen SPD-Senator veranlassen konnte, mit Peter Stein und seiner Gruppe über eine Ansiedlung in Berlin zu verhandeln. Stein, Jahrgang 1937, hatte an den Münchner Kammerspielen bei Fritz Kortner assistiert und galt durch eigene Inszenierungen von Edward Bonds „Gerettet“ und Brechts „Im Dickicht der Städte“ innerhalb kürzester Frist als d i e Regiebegabung seiner Generation.
Nachdem er sich in München öffentlich für den Vietcong eingesetzt hatte und die Kammerspiele verlassen musste, holte ihn Kurt Hübner nach Bremen, damals durch die Arbeiten von Peter Zadek und Wilfried Minks ein Schauplatz der ästhetischen Avantgarde des deutschen Theaters. Stein inszenierte in Bremen 1969 Goethes „Tasso“, mit Jutta Lampe und Edith Clever als den Eleonoren und Bruno Ganz in der Rolle des Dichters Tasso. Es wurde die Aufführung, die wie keine andere die Klassiker-Rezeption der Bühne verändert hat.
Der Zürcher Intendant Peter Löffler erkannte an der Arbeit Steins und seiner Schauspieler das hohe Entwicklungspotenzial und bot Stein die Schauspieldirektion an. Mit den Protagonisten des Bremer „Tasso“ und dem Dramaturgen Dieter Sturm wechselte Stein nach Zürich, wo er vor allem in den Aufführungen von Bonds „Trauer zu früh“ und Middleton & Rowleys „Changeling“ das spätere Ensemble der Schaubühne formte.
Inbegriff für Theater im Idealfall
Die geplante Fortsetzung der Arbeit in Zürich ließ sich jedoch nicht verwirklichen, Spannungen zwischen den Darstellern Steins und den älteren Wortführern des Zürcher Ensembles verhinderten das ebenso wie der zunehmende Widerstand bürgerlicher Kreise im Publikum. Löffler und Stein konnten dem Druck schließlich nicht standhalten. So sah sich Stein frei für das Angebot aus Berlin.
Und es konnte am Halleschen Ufer eine Theaterzeit ihren Anfang nehmen, in der die Schaubühne schon sehr bald, und das weltweit, zu einem Inbegriff wurde für das, was Theater im Idealfall befähigen kann, sein Publikum teilhaben zu lassen an Erkenntnisarbeit und zugleich an großen Erlebnissen. Tatsächlich war es vielleicht das schönste Moment der Produktionen dieses Theaters, dass es gelang, komplizierte ästhetische und politische Überlegungen mitzuteilen im Entwurf eingängiger und sinnlich verführerischer Aufführungen.
Wie die Schaubühne dem Kulturbetrieb in jeder Saison die Glanzlichter ihrer Produktionen aufsetzte, hat sie ihn auch überholt: Weil Theater hier jeweils aufs Neue bestimmt und gerechtfertigt wurde als Erlebnis-und Erfahrungswert, zugehörig der Zeit und der individuellen Lebenspraxis.
Was musste zusammengeführt werden, um soviel zu gewinnen? Andrängende Erinnerungen. Zuerst an das Ensemble, die Schauspieler. Ganzen Lebensläufen, konzentriert manchmal in nur einem einzigen Auftritt, sind wir nachgegangen mit ihnen, so eingeprägt haben sich die Figuren, die sie erspielten, dass sie so wirklich wurden wie nur sehr nahe Menschen im wirklichen Leben.
Hoch befähigte Solisten
Therese Giehses Mutter in Brechts gleichnamigem Lehrstück, mit dem alles anfing, durch das allmähliche Begreifen der Verhältnisse sich entwickelnd zu kämpferischem Widerstand; Jutta Lampes Liebesjubel der Marianne an der blauen Donau in Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, dem Berliner Regie-Debüt Klaus Michael Grübers; Ulrich Wildgruber als revolutionärer Matrose Alexej in Wischnewskis „Optimistischer Tragödie“ mit seiner Ziehharmonika, „gut für Stimmungen“, die Strenge der Kommissarin Elke Petris spielerisch unterlaufend; Heinrich Giskes als junger Peer Gynt in Ibsens, von Stein auf zwei Abende verteilten Lebenserzählung, Bruno Ganz dann, als alter Peer heimkehrend zu der Solveig der Lampe, aufgenommen und bewahrt in dem Schlussbild einer Pietá.
Und Edith Clever als Agaue in den Bakchen des Euripides in dem entsetzlichsten Erkenntnis-Moment, von dem je ein Dichter berichtet hat, beklagend den Tod des Sohnes, dem sie selbst, von Dionysos in Blutrausch versetzt, den Kopf abgerissen hatte.
Aber die Clever auch als vergebens nach Halt suchende Lotte aus Remscheid in den Szenen von Strauß’ „Groß und klein“. Ebenso von Strauß die „Trilogie des Wiedersehens“, darin Otto Sander, von inständiger Komik als verwirrter Drucker Richard in einem verwirrten Monolog. Peter Fitz gab da den Direktor der Kunsthalle, nach dessen Nähe die Susanne der Libgart Schwarz verlangte, sonderbares Bildnis einer Frau zwischen Verstiegenheit, Verstörung und Verbitterung. Und viele aus diesem Ensemble an jenem eiseskalten Dezemberabend 1977 zerstreut im Olympia-Stadion, in Grübers „Winterreise“ zugange mit Hölderlin-Texten.
Diese Schauspieler, waren alle hoch befähigte Solisten – und erwiesen sich in der Arbeit mit den Regisseuren Stein, Grüber und Luc Bondy, der 1976 mit „Die Wupper“ der Lasker-Schüler hinzukam, zugleich als glänzende Teamplayer. Dass die Regisseure Stein und Grüber sich nach Herkunft, Temperament und Denken nachdrücklich voneinander unterschieden, einer oft fremd vor den Arbeiten des anderen stand, hat die Ausdrucksmittel der Schauspieler erweitert und die große Spannweite der Ergebnisse ermöglicht.
Was Stein und Grüber verband, war die Radikalität der Ansätze und der Ansprüche von beiden, ihre Insistenz (in der theoretischen Vorbereitung und in der Praxis der Probenarbeit) auf ein Theater jenseits der Beiläufigkeit.
„Immer nur präsentisch“
Es war vor allem Peter Steins Verdienst, dass der Gegensatz zu Grüber produktiv werden konnte. Er war es, der auch in Hinsicht auf die vor allem von Karl-Ernst Herrmann geschaffenen, von der Kostümbildnerin Moidel Bickel unterstützten Bildwelten der Aufführungen alles zusammenführte: das weit Ausgreifende etwa der Ibsen-Abende, des „Antiken-Projekts“, der Einlassung auf Shakespeare (mit „Shakespeare’s Memory“) und der noch am Halleschen Ufer wie dann am Lehniner Platz gespielten „Orestie“ − wie andererseits die Konzentration auf das Widerspiel von Peter Lührs Kurfürsten und dem Prinzen von Homburg in der hoch differenzierten Darstellung von Bruno Ganz in dem Stück von Kleist oder auf die Facetten der Figuren in den „Sommergästen“ Gorkis und Tschechows „Drei Schwestern“, der Aufführung, in der die jungen Corinna Kirchhoff als Irina, die jüngste der Schwestern, eintrat in die Reihe der ersten Schauspielerinnen des deutschen Theaters.
Und es war auch Stein, der mit Dieter Sturm und Botho Strauß, den er als Dramatiker durchgesetzt hat, Dramaturgen etablierte, die an jeder szenischen Interpretation der Dichtungen entschieden beteiligt wurden. Diese Verbindung der intellektuellen mit den für die Anschaulichkeit in einem Theater notwendigen praktischen Prozessen war eine Konsequenz dessen, was an der Schaubühne als Mitbestimmung galt und von Stein angeleitete Übung war. Es ist, zweifellos begünstigt durch gesellschaftliche Stimmungen des Umbruchs, die Bühne aller Beteiligten gewesen − und war das Werk Steins.
Es ging in den Aufführungen immer um Aufbrüche − um die Einlösung vergangener Hoffnung nach deren Scheitern. Was an der Schaubühne vorbildlich war, ist an den Theatern nahezu ohne Folgen geblieben. Flüchtigkeit der Zeit und unsere Flüchtigkeit in ihr. Lächeln, dass es gewesen. Theater, sagte Botho Strauß neulich, habe immer nur seine Zeit, „es ist immer nur präsentisch“. Für mich denke ich: Nein, immer nicht. Nicht immer.