David Grossmans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ im Deutschen Theater

Während der israelische Schriftsteller und Friedenskämpfer an seinem Roman schrieb, fiel sein Sohn. Armin Petras inszenierte das Werk für das Deutsche Theater.

Anja Schneider spielt die Frau, die vor einer Nachricht flieht. Hier mit Tamer Tahan im Deutschen Theater.
Anja Schneider spielt die Frau, die vor einer Nachricht flieht. Hier mit Tamer Tahan im Deutschen Theater.imago

Anja Schneider spielt Ora, die Titelrolle in der Bühnenfassung von David Grossmans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Der von Armin Petras adaptierte und inszenierte Abend ist fast geschafft, als sie wie aus dem Nichts ziemlich irre kichert und feststellt: „Irgendwie habe ich das Gefühl, seitdem wir hier gehen, dass das mit dem Verdrängen nicht mehr so klappt. Fühle mich verletzbarer, aber tut auch gut, das Wehtun-Lassen.“ Ora ist sich eigentlich die ganze Zeit darüber bewusst, dass ihr Verhalten abergläubisch und nur auf einer symbolischen Ebene subversiv ist. Ihr Sohn Ofer hat seinen Militärdienst eigentlich abgeleistet, sich aber dann noch einmal freiwillig im Zuge einer Mobilmachung zu einem Einsatz im Westjordanland gemeldet. Ora bringt ihn noch zum Stützpunkt und verschwindet dann auf eine Wanderung. Wenn sie nicht erreichbar ist, kann sie die entsetzliche Nachricht, dass ihr Sohn gefallen ist, nicht empfangen – und solange sie nichts davon erfährt, wird ihr Sohn nicht sterben.

Das Ende des Romans bleibt offen

Der Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman begann diesen über 700 Seiten starken Roman im Jahr 2003, sein älterer Sohn Jonathan musste da noch ein halbes Jahr dienen, sein jüngerer Sohn Uri wurde ein halbes Jahr später eingezogen. Uri nahm Anteil an der Entstehung des Buches, er kannte die Figuren und fragte seinen Vater bei Telefonaten, was er ihnen diese Woche wieder angetan habe. Grossman schreibt im Nachwort, dass er einen ähnlichen magischen Gedanken verfolgte wie Ora: „Ich hatte damals das Gefühl – oder die Hoffnung –, dass das Buch, das ich schreibe, Uri schützen wird.“ Es funktionierte nicht.

Uri starb „in den letzten Stunden des zweiten Libanonkriegs“ im August 2006. „Bei dem Versuch, die Besatzung eines anderen Panzers zu retten, wurde sein Panzer von einer Rakete getroffen.“ Grossman schrieb nach der Trauerwoche weiter an dem Buch, schloss es 2008 ab. Das Ende bleibt offen.

Der Text hat eine große dramatische und pathetische Wucht, und er tritt zugleich auf der Stelle. Aus jeder Zeile spricht die Angst vor der Entwicklung, jede Handlung ist aufgeladen wie ein Ritual. Ora nimmt ihre Jugendliebe Avram mit auf die Wanderung. Mit ihm und Ilan, ihrem späteren Mann, kam sie während des Jom-Kippur-Kriegs auf einer Quarantänestation im Lazarett zusammen, sie waren jung, hatten überlebt, lagen verwundet im Fieber und konnten einander nicht sehen wegen der Verdunklung. Später soll Ora per Los entscheiden, wer der beiden aus dem Dienst entlassen und mit ihr leben dürfte. Avram verlor, wurde schwer verwundet und vegetiert als tablettenabhängiger, depressiver Veteran vor sich hin, als Ora ihn Jahre später zu der Wanderung abholt. Während die beiden gehen, beginnt Ora Avram von Ofer zu erzählen – und bekommt die Unzulänglichkeit und scheinbare Banalität ihrer Erinnerungen an ihr Kind zu spüren.

Nichts ist zwingend an diesem Abend

Petras packt das Geschehen in eine Handvoll willkürlich herausgepickter und zerdehnter Bilder, ohne viel darauf zu geben, was sich davon dem Publikum vermittelt. Wer das Buch nicht kennt, ist völlig verloren, aber auch so hat man Mühe, den künstlich verdichteten und abgehackten Dialogsätzen zu folgen. Für die Schauspieler ergeben sich wenig Möglichkeiten, zwischen den durcheinanderpurzelnden Informationen in die Situation zu finden und sie auszuspielen. Anja Schneider reißt sich Emotionen aus dem Leib und lässt sie gekonnt verpuffen. Max Simonischek als Avram rettet sich abwechselnd in die Hinfälligkeits- und die Harte-Männer-Charge. Die anderen im Ensemble, darunter die tolle Julischka Eichel, müssen zwischen lauter kleinen Rollen hin und her springen. Micha Kaplan begleitet das Geschehen musikalisch, Rafael Ossami Saidy mit der Kamera.

Dass die erste halbe Stunde im Dunkeln spielt, mag der Vorlage geschuldet sein, aber so rutscht der Abend gleich zu Beginn in eine kaum entzifferbare, gerümpelhafte und verhaspelte Formlosigkeit, die er beibehält und die sich in dem Bühnenbild von Peta Schickart wiederfindet: Das Setting ist indifferent und konkret zugleich, soll irgendwas zwischen Flüchtlingslager, Landstraße, Militärstützpunkt, Grenzanlage, Picknickplatz darstellen und drückt die Figuren an die Rampe oder in irgendwelche Winkel. Alles erscheint zufällig, raunend, angerissen, manchmal karikiert und illustriert, aber nichts ist zwingend an diesem quälenden Versuch, der eigentlich heißen müsste: „Ein Regisseur rennt vor einem Roman weg“. Der zurückhaltende Schlussapplaus schwoll an, als Petras den Schriftsteller an die Rampe schob, wo dieser einfach stehen blieb und den Dank für seinen großen, herzzerreißenden Roman entgegennahm.

Eine Frau flieht vor einer Nachricht. 22. Februar, 1., 8., 21., 29. März im Deutschen Theater, Karten unter Tel.: 030 28441225 oder www.deutschestheater.de