Schaubühne: Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows „Möwe“
Unter einer raumfüllenden Platane verschmelzt Thomas Ostermeier mit Tschechows „Möwe“ falsche Gefühle mit echten Sehnsüchten zu verzweifeltem Lebensspiel.

Es tut zweifellos gut, in kalten Wintertagen ein echtes Sommerstück zur Premiere zu bringen. Denn da sitzen wir nun in Saal B der Schaubühne unter einer wunderschönen, großen Platane, als säßen wir in einem Sommergarten, und gleich geht alles entspannter. Das goldene Licht der untergehenden Sonne wärmt noch durch die Blätter, und die Vögel zwitschern. Die Zuschauerreihen sind wie ein Amphitheater um den imposanten Baum geordnet, der eine Art Naturbühne darstellt und im geschlossenen Raum echte Freilichtgefühle aufkommen lässt – schlechte Sicht und noch schlechtere Akustik inklusive. Und schon stecken wir mitten in Anton Tschechows elegischem Theater-Theaterstück „Die Möwe“, das sich verteufelt irrlichternd um nichts anderes dreht als um die vertrackte Amalgamierung von Natur, Kunst und Leben zu falschen Gefühlen, echten Sehnsüchten und verzweifeltem Lebensspiel.
Tausche Klassik gegen neue Formen
Nicht zuletzt dreht sich auch darin immer alles um die aktuelle Frage, was gutes Theater und was gutes Leben seien – und ob beide sich vertragen. Kein Wunder, dass Thomas Ostermeier den Tschechow’schen Klassiker bereits zum dritten Mal in zehn Jahren auf die Bühne gebracht hat. Einen Klassiker, der vor gut 125 Jahren selbst mit aller Klassik aufräumen wollte im Tausch gegen die Suche nach neuen Formen und neuem Leben.
Sehr genau zirkelte Tschechow selbst an dieser seltsamen, tragikomischen Spiraldrehung des Stücks, das zwei verliebte Schriftsteller, zwei überdrehte Schauspielerinnen und andere verkappte Seinskünstler versammelt, die in ihren knappen selbstreflexiven Dialogen das exerzieren, woran sie inhaltlich im Stück scheitern: Modernität. So ist „Die Möwe“ ein ungeheuer waches und verträumtes Schwellenstück zugleich, das den permanenten Auf- und Wiederabbruch, das ewige Insleerelaufen widerstreitender Kräfte forciert und in genau dieser Schleife über die Jahrzehnte hinweg an Relevanz kaum einbüßt. Im Gegenteil steigt mit jedem Jahr die Erwartung, welchen Aufbruch, welchen Kulturkampf ein Regisseur diesmal ausficht. Auch gegenwärtig fehlt es ja keineswegs an postpandemischen Theaterdämmerungsdebatten.
Alte und neue Schule
Auf einen kühnen Sprung in diese Arena aber lässt sich Thomas Ostermeier nach über 20 Intendantenjahren nicht mehr ein. Zwar schmeißt sich sein junger Revoluzzerpoet Kostja (Laurenz Laufenberg) im ersten Akt selbst mit Haut und Haar in die Aufführung seines superwoken Weltrettungstheaters, das vor Platane und versammelter Familie die bedrohte Zukunft ins Jetzt holen und alles zugleich sein will: symbolisch und radikal authentisch, actionreiches Feuerspektakel, mythisches Weltgeistrauschen und ironisches Kinderreiten auf Plastikhirsch. Und zwar schwingt sich im Gegenzug Kostjas Mutter (Stephanie Eidt), die düpierte Erfolgsschauspielerin Arkadina, mit einer auratischen Divenszene der alten Regietheaterschule eitel dagegen. Doch lässt Ostermeier beide Haltungen genüsslich ins Leere laufen.
Aus ästhetischer Debatten- und experimenteller Praktikersicht könnte man diesen Abend durchaus einen verschenkten nennen. Und doch passiert hautnah unter der Oberfläche etwas recht Subtiles, denn hier spielt und kämpft jede Figur nicht nur gegen den vermeintlichen Gegner – der idealistische Kostja gegen den vampirischen Stilverwerter Trigorin, die abgebrühte Rampensau Arkadina gegen die naive Nachwuchskraft Nina – vor allem spielen sie mit und gegen ihre selbst aufgesetzten Images, gegen ihre vertrackten Lebensrollen, unter denen sie leiden wie Hunde.
Routine des Komödianten
Am gereiztesten der milchgesichtige Laurenz Laufenberg, dessen Kostja man die meiste Zeit wüten oder winselnd auf die Knie sinken sieht. Am elegantesten die blondperrückte Hollywood-Schönheit Stephanie Eidt, die als Arkadina die Männer im Nackengriff hält. Und am hoffnungsvollsten die junge Nina, der Alina Vimbai Strähler noch in der größten Verblendung ein unverbrauchtes Augenleuchten leiht, dem niemand widerstehen kann. Am komödiantisch routiniertesten steuert Joachim Meyerhoff seinen Trigorin mit beachtlicher Halbglatze auf Gummisohlen über die Bühne wie einen eitlen Buchhalter, der den richtigen Kniff zur schnellsten Aktenrotation gefunden hat. Vor allem er kostet die Bigotterie seiner Figur in parodistischen Nummern genüsslich aus, wird leider aber auch über Gebühr geschwätzig dabei, was alle Tschechow’sche Knappheit und Modernität empfindlich konterkariert. Ein schillernd boulevardesker Schauspielerabend wird daraus mit Schwingung für gegenwärtige Doppelbödigkeit, aber wenig festem Tritt für Zukunft.
Die Möwe 9., 10., 12., 14., 15. März, Schaubühne, Kurfürstendamm 153, Karten unter Tel.: 030 890023 oder schaubuehne.de