Diese Musik überflutet alles: „Einstein on the Beach“

Die Oper von Philip Glass und Robert Wilson ist im Haus der Berliner Festspiele zu sehen, von Susanne Kennedy und Markus Selg atemberaubend inszeniert.

Der Chor von „Einstein on the Beach“ im Haus der Berliner Festspiele.
Der Chor von „Einstein on the Beach“ im Haus der Berliner Festspiele.Ingo Höhn

Das Musiktheater der Minimal Music ist in Berlin praktisch nie zu hören. Bis auf „Satyagraha“ vor einigen Jahren an der Komischen Oper werden die international erfolgreichen Opern von Philip Glass oder John Adams hier nicht aufgeführt. Die einzige Ausnahme: Glass’ „Einstein on the Beach“ – es kommt in jedem Jahrzehnt ein paar Mal mit Gastspielen in die Stadt. So auch diesmal: In Basel und bei den Wiener Festwochen war die Produktion von Susanne Kennedy und Markus Selg bereits zu sehen, bevor sie am Donnerstag zum ersten Mal im Haus der Festspiele gezeigt wurde.

Als „Einstein on the Beach“ 1976 uraufgeführt wurde, war das ein kultureller Schock: Nie zuvor wurde die alte Opern-Frage, ob nun die Musik oder das Drama der Ausgangspunkt sein solle, so grundlegend zugunsten der Musik entschieden. „Einstein on the Beach“ hat keine Handlung, keine Figuren – auch der Geiger, der Einstein sein soll, ist keine „Person“ – und gesungen werden Zahlen und Tonnamen. Glass hat das Szenarium zusammen mit Robert Wilson entworfen, aber seine Musik überflutet alles. „Einstein on the Beach“ ist vage metaphysisch, ohne sich auf mehr festzulegen als eine Form.

Ziegen staksen ins Publikum, man darf den Saal verlassen

Für die Regisseurin Susanne Kennedy ist das ein sperrangelweit offenes Einfallstor für ihre nicht weniger vagen Monumentalbilder, die sich vom Tribalismus und vom realen Virtualismus nähren. Auf der unablässig rotierenden Drehbühne sieht man Stammeshütten, deren Ornamente sich auf der Kleidung der Tänzer und Sänger fortsetzen. Hauptattraktion ist eine Art Stargate, auf dem es beständig flimmert; am Ende sammeln sich Lichtstrahlen in dessen Mitte, um die Eingeborenen der Drehbühne in die nächste Dimension zu katapultieren.

Wenig luzide scheint es da um die Geschichte der Menschheit zu gehen. Auf Projektionsflächen morphen im ersten Akt Bäume zu Wolken und umgekehrt, später wogt Gras, dann auch einmal nichts. Häuser-Fassaden verwandeln sich in versteinerte kambrische Lebewesen, überall zucken Quecksilbertropfen. Auch wenn Glass Kitsch und tiefen Sinn sehr konsequent ausgeschlossen hat – bei Susanne Kennedy gehen sie Hand in Hand, und zwar besonders intensiv.

Und natürlich immersiv! Am immersivsten sind die Ziegen, die ins Publikum staksen. Oder man steigt mal auf die Drehbühne und fährt eine Runde mit bei den dunklen Ritualen. Oder man geht hinaus: Schon bei der Uraufführung des pausenlosen Vier-Stunden-Werks wurde dem Publikum nahegelegt, den Saal zu verlassen und nach Belieben wiederzukommen: auch das eine Epochenwende im künstlerischen Selbstverständnis. „Einstein on the Beach“ ist ein Stück, von dem man ohne großen Schaden für den Gesamteindruck auch etwas weglassen kann. Zugleich ist das Herausgehen ein Mittel, um den Bann des Rauschs zu brechen, in den sowohl die Musik als auch die Bilder den Betrachter versetzen wollen.

Diamanda Dramm spielt viel besser als Einstein

Der Berliner Dirigent André de Ridder, Spezialist für gattungs- und genreübergreifende Musik, leitete das bestürzend klein besetzte Ensemble Phoenix Basel, das den Raum mit zwei Keyboards, Bassklarinette, zwei Saxofonen und zwei Flöten zu füllen vermag. Die Aufführung hat rhythmischen Drive und bei Bedarf auch große Ruhe. Diamanda Dramm spielt die Solo-Geige, ohne an Albert Einstein zu erinnern – und vermutlich um Dimensionen besser als er. Die Basler Madrigalisten singen die Ensembles mit erstaunlicher Ausdauer und Präzision. Wie die Solistinnen Álfheiđur Guđmundsdottir, Emmy Dilewski, Sonja Koppelhuber und Nadja Catania trotz der mörderischen Wiederholungen in der gleichen Lage bis zum Schluss tonschön singen können, ist schier atemberaubend.

Im Haus der Festspiele kam ein wunderbar gemischtes Publikum zusammen, alt und jung, sowohl bürgerlich als auch popkulturell geprägt. Noch einmal scheint sich das Musiktheater als eine sozial integrierende Kunstform zu bewähren. Wenn das Stück so endet, wie es angefangen hat, mit einer sehr vertrauten Folge dreier Akkorde, dann hat man zwar den Eindruck, dass damit etwas gerahmt wird, das jeder mit seinen individuellen Assoziationen füllen kann. Aber es klingt in jedem Fall bestürzend schön.

Aufführungen bis 3.7., Haus der Berliner Festspiele, nur Restkarten.