Die Wucht sozialer Ungerechtigkeit: „Ein Mann seiner Klasse“ beim Theatertreffen
Hunger in Deutschland: Die Bühnenadaption von Christian Barons „Ein Mann seiner Klasse“ macht die sozialen Schranken für das bürgerliche Publikum spürbar.

Was Theater alles kann: Während bei der Eröffnungsinszenierung „Das neue Leben“ von Christopher Rüping mühelos ein Abstand von 700 Jahren übersprungen wird, führt das zweite Gastspiel des Theatertreffens einen scheinbar unüberbrückbaren Abstand vor, obwohl es sich um einen Stoff aus der Gegenwart handelt. Gezeigt wird eine Adaption des 2019 erschienenen autobiografischen Romans „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron. Der Text erzählt von einer Kindheit in Armut, von sozialer Abgehängtheit, Bildungsferne und Gewalt.
Christian ist der zweite Bruder in einer kleinen Familie, die in Kaiserlautern in einer verschimmelten Wohnung haust. Sein Vater arbeitet als Möbelpacker, vertrinkt den Lohn, schlägt Frau und Kinder, es reicht trotz harter Arbeit hinten und vorn nicht, und als er die Stelle verliert, lässt er die Familie lieber hungern als Sozialhilfe zu beantragen. Christian verliert seine Mutter, als er acht Jahre alt ist, an den Krebs, die Kinder ziehen zur Tante. Als auch der Vater ein paar Jahre später auf dem Sterbebett liegt, kommt der Sohn nicht, um sich zu verabschieden. Die Geschichte spielt in einem der reichsten Länder der Welt.
Der Stoff ist umso gegenwärtiger, als dass während der Pandemie Familien auf sich zurückgeworfen, Türen geschlossen wurden, hinter denen sich ähnliche Dramen abspielten und die Einfluss- und Eingriffsmöglichkeiten für die Außenwelt noch eingeschränkter waren. Nicht seiner Begabung und seinem Bildungshunger, sondern viel mehr dem Zufall, ein paar engagierten Menschen hat Baron es zu verdanken, dass er trotz seiner Herkunft und gegen alle gesellschaftlichen Widerstände den Ausweg gefunden hat, Abitur machen und studieren konnte und heute als Journalist und Autor arbeitet.
Lukas Holzhausen hat diese erschütternde Geschichte für das Schauspiel Hannover als bescheidenes Erzähltheater im kleinen Rahmen inszeniert. Nikolai Gemel muss in der Hauptrolle einen Textberg bewältigen und tut dies mit treuem Blick, viel Melancholie und emotionalem Engagement, kann aber nicht verhindern, dass der Schicksalsbericht allein durch seine Dauer und Wucht zur eintönigen Klage wird. Unterstützt wird er von einem Kinderdarsteller, der seinen großen Bruder spielt, sodass die erzählte Kindheit immer mit im Raum ist. Stella Hilb spielt Mutter und Tante und zeichnet mit Feuer, Herz und Dialekt, ganz ungebrochen eine soziale Milieustudie.
Der eigentliche Clou der Inszenierung ist der Laiendarsteller Michael „Minna“ Sebastian, der während der 100 Minuten Spieldauer aus Bühnenteilen einen schäbigen Bungalow zusammensetzt (Ausstattung: Katja Haß): ein massiger Mann mit Jeans und T-Shirt, tätowierten Armen und allein auf seine Aufgabe konzentrierter Erscheinung. Seltsamerweise kommt man sich von ihm beobachtet und ertappt vor und fühlt sich als bürgerlicher Voyeur und Zeitvertrödler, und dies gerade weil er kein bisschen Interesse am Publikum zu zeigen scheint, sondern nur tut, was man ihm aufgetragen hat: Wände aufstellen, verbinden, tapezieren.
Allein, dass man hier nur sein Äußeres beschreiben kann, deutet auf zwei Welten hin, die auf der Bühne simultan existieren: die Welt der bloßen Verrichtung im eindimensionalen So-Sein und die Welt des reflektierten Spiels im symbolischen Raum. Dieser Theatertrick führt im selben Raum eine unüberbrückbare Ferne zwischen diesen Welten vor. Dabei müsste man, um miteinander in Kontakt zu kommen, nur die Grundverabredung des Theaterspiels brechen. In der sozialen Wirklichkeit wäre es dafür längst an der Zeit.
Theatertreffen noch bis 22. Mai, Programm, Karten und Informationen unter www.berlinerfestspiele.de